Ein Blitz durchzuckt den dichten Hagel am Passo Pordoi – gefolgt von einem Donner zum Fürchten. Es stürmt, und der helllichte Tag wird auf einen Schlag zappenduster. Zum Hotel sind es noch 23 Kilometer, ungefähr eine Stunde. Völlig durchnässt, ausgekühlt und entkräftet kommt ein einsamer Radfahrer dort an und springt unter die heiße Dusche. Es sieht so aus, als ob alles schon vorbei ist, bevor es überhaupt richtig angefangen. Guido Kunze ist Extremsportler, steht schon mit drei Rekorden im Guiness-Buch und will hier noch einen drauf setzen. Auf der Sella Ronda. Vier Pässe, 53 Kilometer, 1650 Höhenmeter. Traumrevier in den Dolomiten im Winter für Skifahrer. Und für jeden Rennradfahrer im Sommer ganz oben auf der Bucket-List.

Extremsportler Guido Kunze richtet ein Trikot für den Weltrekordversuch
Extremsportler Guido Kunze richtet sein Trikot, bevor er zu seinem Weltrekordversuch aufbricht. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

10 Uhr. Oder auch: „Schalten darf ich 24 Stunden lang nicht“

Am Tag vor dem Start ist Guido noch guter Dinge. Er will das Sellamassiv 24 Stunden lang umrunden. Mit nur einem Gang. Dass die Wetterprognose – sagen wir einmal – suboptimal für Ende Juli ist, stört ihn noch wenig. Aber er entscheidet sich, sein Ghost-Roadrage-Gravelbike nochmal umzubauen. Vorne 40 Zähne, hinten 25. Das war sein ursprünglicher Plan, den er über den Haufen wirft. Guido entscheidet sich für eine leichtere Übersetzung, montiert vorne noch schnell ein 30er-Blatt. „Wenn ich bei Kälte dicke Gänge trete, werden meine Muskeln nach den Abfahrten verkrampfen“, erklärt er vor den Augen eines italienischen Rennrad-Enthusiasten, der ungläubig zuschaut und neugierige Fragen stellt. Mit Händen und Füßen überwinden sie die Sprachbarrieren. Die Schaltung? Bleibt dran, um das Hinterrad im Fall einer Panne schnell rauszukriegen. Einziges Problem: „Schalten darf ich halt 24 Stunden lang nicht, sonst ledert mir die Kette runter“, sagt Guido.

Extremsportler Guido Kunze fährt mit seinem Rennrad auf einem Pass der Sella Ronda durch heftigen Regen 46 Bilder

Extremsportler Guido Kunze – ein Radler der Superlative mit dem Rennrad auf der Sella Ronda

Aber Guido Kunze ist ein alter Hase im Extremsport. Der Thüringer kam eigentlich übers Laufen zum Radfahren – das aber gleich mit Wucht. Mit drei anderen zu Extremen neigenden Freunden entstand die Idee, das Race Across America zu fahren. 5000 Kilometer nonstop von West nach Ost durch die USA. „Zum Schluss war ich der einzige von uns, der am Start stand“, erzählt er. Und wie! Guido erreichte 2008 als vierter Deutscher überhaupt nach zwölf Tagen total erschöpft und mit völlig aufgescheuertem Hinterteil das Ziel. Er durchquerte anschließend mit dem Rad Australien, fuhr auf der Chinesischen Mauer und erhielt sogar eine Audienz beim Papst. Ein eindrückliches Erlebnis, auch wenn Papa Francescos Draht zum Himmel ihm fortan nicht wirklich Beistand leisten sollte – zumindest im Hinblick auf das Wetter.

Extremsportler Guido Kunze macht sein Fahrrad fit für den Weltrekord
Weil das Wetter schlecht werden soll, entscheidet sich Guido kurz vor dem Start, die Übersetzung zu wechseln. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

15 Uhr. Oder auch: Regen wie aus Kübeln

Was vielleicht gar nicht so schlimm wäre, wenn Guido Kunze nicht den Sommer lieben würde. Sogar die Hitze. Als er sich von Kolfuschg aus auf die Sella Ronda begibt – in den Trikottaschen nichts anderes als Pumpe, Schlauch, Riegel, Windjacke und Telefon – scheint zwar noch die Sonne. Aber nicht mehr lange. Genau zum Ende von Runde eins schüttet es wie aus Kübeln. Guidos Frau Gaby und Sohn Melvin stehen an der Strecke, reichen Energieriegel, eine neue Trinkflasche. Guido lässt sich nicht entmutigen, nimmt zum zweiten Mal den Anstieg zum Grödner Joch in Angriff und freut sich darüber, dass der Regen schon wieder nachlässt. „Wir haben noch Glück, es hätte auch viel schlimmer kommen können“, sagt er, als er nach ziemlich genau fünf Stunden das Sellajoch erreicht – mampft schnell einen Riegel, zieht die Windjacke zu und macht sich vor dem spektakulären Panorama der Dolomiten auf die Abfahrt.

Extremsportler Guido Kunze fährt mit seinem Rennrad auf einem Pass der Sella Ronda
Traumhaft: Der Langkofel am Sellajoch unter blau-weißem Himmel. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

Mit seinem Singlespeed-Bike muss er sich auf den Abfahrten rein auf die Schwerkraft verlassen. Mittreten ergibt selbst bei moderaten Gefällen keinen Sinn, Antritte aus den Kurven heraus sind unmöglich. Aber natürlich bieten die Abfahrten gute Gelegenheiten, sich zu sammeln, Körper und Geist ein wenig Erholung zu geben für die kräftezehrenden Anstiege, an denen die Steigung die Trittfrequenz bestimmt und unbarmherzig den Rhythmus vorgibt. In Runde zwei beginnt sich Guido so langsam an die Strapazen zu gewöhnen. Er hat sein typisches tiefenentspanntes Grinsen im Gesicht, als er den Passo Pordoi erklimmt. Doch dann geht plötzlich die Welt unter. 

An der Passhöhe des Sellajochs ziehen dunkle Wolken auf
Dunkle Wolken an der Passhöhe des Sellajochs. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

17 Uhr. Oder auch: Die Entscheidung zwischen Pest und Cholera

Ein Blitz durchzuckt den dichten Hagel am Passo Pordoi – gefolgt von einem Donner zum Fürchten. Es stürmt, und der helllichte Tag wird auf einen Schlag zappenduster. „Ich kann kaum das Fahrrad noch halten“, sagt Guido verzweifelt, als der Sturm tobt und das Gewitter wütet. Der Hagel peitscht ihm ins Gesicht. Hände und Füße werden kalt. Und als er die Passhöhe auf 2239 m überquert, wird die Abfahrt zum zittrigen Balanceakt. Unten in Arabba lässt der Sturm zwar nach, der Regen aber nicht. Guido muss noch über den Campolongo-Pass, den niedrigsten zwar auf der Sella Ronda, aber der Weg ins Hotel fühlt sich noch an wie eine halbe Ewigkeit. „Wenn ich jetzt stehen bleibe, friere ich noch mehr“, sagt Guido verzweifelt. „Es ist die Entscheidung zwischen Pest und Cholera.“

Extremsportler Guido Kunze fährt mit seinem Rennrad auf einem Pass der Sella Ronda
Am Anstieg zum Passo Pordoi kämpft sich Extremsportler Guido Kunze durch ein heftiges Gewitter mit starkem Regen. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

20 Uhr. Oder auch: „Aufgeben werde ich so schnell nicht“

Für Gaby und Melvin ist eigentlich klar, dass Guido seine Mission vorzeitig beenden muss. Die Mission, auf die er sich so lange gefreut und vorbereitet hat. Schon letztes Jahr im Spätsommer wollte er ein Zeichen setzen – für Bewegung in der Natur, gerade in Zeiten, in denen Corona zu so vielen Einschränkungen führte. Doch dann kam das Virus mit aller Macht zurück, weshalb Guido sein Sella-Ronda-Projekt um ein  Jahr verschieben musste. Pure Natur in Verbindung mit purer Fahrradtechnik. Schnörkellose, aber intensive Erlebnisse. Und etwas, was vor ihm noch niemand gewagt hat. All das hat ihn hierher geführt – auf seine neue Rekordfahrt.

Extremsportler Guido Kunze fährt mit seinem Rennrad nachts auf einem Pass der Sella Ronda
Einsame Fahrt durch die Nacht: Guido Kunze kämpft sich den Campolongo-Pass hinauf. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

An Weiterfahren ist jedoch beim besten Willen nicht zu denken. Es schüttet noch immer und in den Bergen hängt stur die Gewitterfront. Aber Guido checkt fokussiert das Regenradar und sinniert dabei: „Das was ich mache, kann ja eigentlich jeder. Die Frage ist immer nur: Wie groß ist der Wille.“ Es gehe, so sagt er, vielleicht 30 Prozent um sportliche Dinge. Die anderen 70 Prozent spielten sich im Kopf ab. Was bei Guido heißt: „Aufgeben werde ich so schnell nicht.“ Und deshalb steht er nach knapp drei Stunden Zwangspause punkt 20 Uhr vor dem Hotel und schwingt sich erneut in den Sattel, nachdem der Himmel seine Schleusen wieder geschlossen hat.

Mitten in der Nacht fährt Extremsportler Guido Kunze auf den Campolongo-Pass
Die Kälte und die Nässe zehrt an den Kräften. Aber ans Aufgeben denkt Extremsportler Guido Kunze nicht einmal ansatzweise. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

23:40 Uhr. Oder auch: Langsam wird es etwas mühselig

Das Regenradar hat eine trockene Nacht verkündet. Doch schon nach zehn Minuten fängt es wieder an zu regnen. „Die Erfahrung, schon fast alles erlebt zu haben, hilft mir“, sagt Guido, der sich nicht unterkriegen lässt. Während er bei seinen ersten beiden Runden noch die Strecke mit Auto- und Motorradfahrern und zahlreichen Rennradlern teilen musste, wird es jetzt so langsam ruhig. Die Nacht zieht ein, ein Hase hoppelt mal über die Straße, auf der Wiese Richtung Tal springt ein Reh. Aber ansonsten ist Guido mutterseelenallein.

Extremsportler Guido Kunze isst mitten in der Nacht ein Brötchen.
Mehr als verdient: ein Brötchen und eine kleine Pause. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

Immerhin ist Gaby jetzt immer in seiner Nähe. Auch Melvin, der sich eigentlich darauf gefreut hatte, die Nacht durchzumachen, aber längst hinten im VW-Bus schläft wie ein Stein. 20 Minuten vor Mitternacht erreicht Guido zum dritten Mal den Campolongo-Pass. Gaby reicht ihm ein Brötchen und eine Pulle Cola. Willkommene Abwechslung für den Gaumen, der jetzt seit 14 Stunden den Geschmack von Riegeln und Energydrinks ertragen muss. „Langsam wird es ein wenig mühselig“, sagt Guido, der müde aussieht und nicht sagen kann, wie spät es eigentlich ist.

Extremsportler Guido Kunze fährt in der Morgendämmerung zum Passo Pordoi
Der Regen hat aufgehört, die Sonne geht auf. Hoffnungsschimmer am Passo Pordoi. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

5:24 Uhr. Oder auch: Passo Pordoi, die Fünfte

Gaby und Guido beschließen trotzdem, Gas zu geben, wegen der Zwangspause verlorene Zeit aufzuholen. Gaby fährt mit dem VW-Bus hinterher, leuchtet die Strecke deutlich besser aus, als Guidos Lenkerlampe dazu in der Lage wäre. Das trägt ihn durch die Nacht. Die zauberhafte Morgenstimmung in den Dolomiten nimmt Guido aber nur noch bedingt war. Als er um 5.24 Uhr das fünfte Mal auf dem Passo Pordoi angekommen ist, fällt es ihm schwer zu reden. „Ich bin total platt, die Kälte hat mir den letzten Saft aus den Knochen gezogen.“ Und dennoch ist sein Optimismus ungebrochen: „Ich hoffe, dass die aufgehende Sonne meine Lebensgeister wieder weckt.“

Extremsportler Guido Kunze im Morgenlicht am Grödner Joch
Eine Wohltat: die Sonne kehrt zurück. Jetzt bloß nicht müde werden. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

10:02 Uhr. Oder auch: 315 Kilometer und 9860 Höhenmeter später

Aber Guido weiß auch um die Gefährlichkeit dieses Moments: „Wenn es Tag und plötzlich warm wird, fühlt man sich, als würde man in der Hängematte liegen und zugedeckt werden.“ Jetzt nicht müde werden. Nochmal eine Runde drehen. Voll konzentriert.  Um 9.54 Uhr passiert er das letzte Mal den Campolongo-Pass. „Ich bin total fertig, aber ich fühl mich gut“, ruft er euphorisch vom Fahrrad und stürzt sich in die letzte Abfahrt nach Corvara. Noch ein paar Höhenmeter zurück ins Hotel.

Extremsportler Guido Kunze im Trikot und mit Fahrradhelm
Geschafft! Ein Lächeln der Erleichterung kurz vor dem Ziel. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

Die Sonne lacht ihm ins Gesicht. Gaby und Melvin erwarten Guido freudestrahlend. Guido reckt die Faust in die Höhe. Holt sich einen Kuss und feste Umarmungen ab. „Das war unglaublich hart“, sagt er glücklich: „Die letzten Kilometer waren nochmal zäh wie Kaugummi.“ 315 Kilometer stehen am Ende auf dem Tacho. Und 9860 Höhenmeter. Nach exakt 24 Stunden und 2 Minuten. Ob es am ein Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde wird? Das entscheiden jetzt die Gremien dort. Für solche Gedanken hat er gerade ohnehin keinen Kopf. Guido, trocknet sich den Schweiß vom Gesicht greift, sich den Gartenschlauch und putzt liebevoll in aller Gründlichkeit sein Fahrrad: „Ein guter Cowboy muss sein Pferd auch pflegen“, sagt er und setzt sein typisches Guido-Grinsen auf.

Extremsportler Guido Kunze schaut erleichtert nach seinem 24-Stunden-Weltrekord
Erleichtert im Ziel: Extremsportler Guido Kunze freut sich gemeinsam mit Sohn Melvin. Jens Vögele | 360°-Kommunikation

„Das war großes Kino“, blickt Guido zufrieden in die wohltuend wärmende Sonne, als er eine Stunde später mit Gaby und Melvin vor einem überdimensionalen Eisbecher sitzt. Es waren 24 Stunden, die ihm im Gedächtnis bleiben, von denen er noch viel erzählen wird. „Meine Ideen“, so sinniert er, „kommen mir ja immer, wenn ich auf dem Fahrrad sitze und Zeit habe über Gott und die Welt nachzudenken.“ Gut möglich, dass auf der Sella Ronda deshalb schon das nächste Projekt gereift ist. Aber bevor er es verrät, wird er jetzt erstmal tief drüber schlafen.

Die Reportage wurde auf der Website von Ghost Bikes veröffentlicht.