Wer weiß, wo seine Stärken liegen, kann leichter zu seinen Schwächen stehen.“ Wahrscheinlich sagt Ihnen der Name Ernst Ferstl nichts. Aber wahrscheinlich sind Sie irgendwann schon einmal irgendwo in Kontakt mit einem seiner Sprüche gekommen: Ferstl versorgt aus seiner Heimat die Zitatesammler täglich und zahlreich mit neuen Aphorismen. Dort, in Zöbern, in der Buckligen Welt, genau zwischen Wien und Graz, ist es jedenfalls gut, wenn man als Rennradfahrer weiß, wo seine Stärken liegen. Denn diese Gegend nennt man „das Land der 1000 Hügel“. Und dieses Land ist zwar nicht wirklich bekannt, aber es ist wohl eines der besten, schönsten, verkehrsärmsten, genussvollsten und vielfältigsten Rennrad-Reviere im deutschsprachigen Raum.

Zwei Rennradfahrer vor dem Panorama der Buckligen Welt
Schöne bucklige Welt: Unzählige Hügel, traumhafte Ausblicke, schweißtreibende Touren. Peter Fröhlich

Wer die Hügel bezwingt, wird mit traumhaften Ausblicken belohnt

Auf der einen Seite thronen die Wiener Alpen mit dem Semmering und dem Schneeberg, auf der anderen Seite erstreckt sich der Neusiedler See und die Pannonische Tiefebene. Und mittendrin befinden sich die 1000 Hügel der Buckligen Welt. Mit 1000 Möglichkeiten für einen großartigen Rennrad-Urlaub – vor allem für Sportler, die das Flachland eher langweilig finden. Vom kleinen Kurort Bad Schönau aus lässt sich die Vielfalt der Buckligen Welt hervorragend erkunden. Wer die Hügel bezwingt, wird ständig mit traumhaften Ausblicken belohnt. Wem die Hügel nicht genügen, der kann knallharte Berge fahren. Und wem das immer noch nicht genügt, der kann hier Typen kennenlernen. Echte Typen.

Zwei Radfahrer blicken ins Tal
Genuss, Anstrengung und Geschichte: Das ist der Dreiklang der Buckligen Welt zwischen Wien und Graz. Peter Fröhlich

Aber der Reihe nach: Rennrad fahren in der Buckligen Welt heißt Ruhe. Tourismus gibt es hier in Maßen, nicht in Massen. Das Gute daran: Die Straßen haben Rennradfahrer nahezu für sich allein. Auf der Wehrkirchenstraßenrunde ist es geradezu sagenhaft still, was hier hämmert, sind keine Motoren, sondern Herzschläge. Doch auch wenn der Puls rast, es lohnt sich hier fast überall, die Blicke schweifen zu lassen – in jede Richtung. Auf dem Weg zur ungarischen Grenze und nach Horitschon lässt es sich dagegen wunderbar dahingleiten.

Anton Iby verkostet seine Rotweine
Anton M. Iby kreiert mit Leidenschaft Rotweine, die zu den besten Österreichs gehören. Und er verkostet sie mit großer Freude. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Der reinste Luxus: Neben der praktisch unbefahrenen Straße verläuft ein gut asphaltierter Radweg. Hier ist es auch möglich, höhenmeterfreie Kilometer zu sammeln. Eine Seltenheit in dieser Gegend. Einen Abstecher wert ist der Neusiedler See. Entweder für ein Sonnenbad im Strandcafé oder um ausgiebig Grundlage zu bolzen. Einmal um den See macht 120 Kilometer extra, die sich aber mit der Fähre von Mörbisch nach Illmitz ziemlich genau halbieren lassen.

Zwei Radfahrer am Ufer des Neusiedler Sees
Mit der Fähre von Mörbisch nach Illmitz: Die Umrundung des Neusiedler Sees lässt sich so auf zirka 60 Kilometer verkürzen. Peter Fröhlich

Heftig steil und alpin wird’s dagegen nach Westen. St. Corona am Wechsel liegt zwar nur 844 Meter über dem Meeresspiegel, trotzdem kann man hier im Winter Ski fahren. Der Wechsel, der in der Verlängerung des Alpenhauptkamms liegt, so sagt man hier, sei eine Wetterscheide. Wie das Wetter so ist? Es wechselt. Tiefs aus Italien schaufeln im Winter den Schnee bis hierher, in Zöbern, auf knapp 600 Meter Höhe, ist deshalb die Langlaufloipe gar nicht so selten gespurt.

Zwei Radfahrer fahren auf das Viadukt der Semmeringbahn zu
Immer wieder im Blick: Die Trasse der Semmeringbahn mit ihren spektakulären Viadukten. Peter Fröhlich

Im Sommer dagegen freuen sich Rennradfahrer über knackige Anstiege auf den Feistritz- und Pfaffensattel sowie steile Serpentinenabfahrten, die zuerst Leid, und dann Freud verursachen. Auf dem Semmering, dem Skigebiet, das die Wiener in rund einer Stunde erreichen, ist’s jedoch vorbei mit der Ruhe – die Passhöhe gleicht auch im Sommer eher einem Rummelplatz. Aber hier zeugt das Grandhotel Panhans von einst glorreichen Zeiten. Hier lohnt es sich abzusatteln, den mondänen Bau zu besichtigen und im Café mit einer Melange Koffein zu tanken.

Zwei Radfahrer vor dem Kurhaus Simmerin
Die Geschichte des prächtigen Kurhaus Semmering passt zur Landschaft: ein stetiges Auf und Ab. Peter Fröhlich

Platzende Kalorienbomben

Die Kalorienbomben platzen schließlich rund neun Kilometer vor dem Ziel in Bad Schönau. Im „Weißen Kreuz“ erliegen wir dem Lockruf eines Wiener Schnitzels. Und treffen dort Georg Blochberger, der uns auf der anderen Straßenseite zu seinem Kuhstall führt. Direkt daneben produziert er das wahrscheinlich beste Eis der Welt, die Milch kommt quasi direkt aus dem Euter in die Eismaschine. In Wien und Graz hat er es mit seiner Frau Andrea unter dem Namen Eis Greissler längst zu Ruhm gebracht.

Zwei Radfahrer im Museumsdorf in Krumbach
Absteigen lohnt sich: Etwa um das Museumsdorf Krumbach zu suchen. Peter Fröhlich

Die Leute bilden dort lange Schlangen. Und in Wien muss bisweilen, wenn der Andrang besonders groß ist, ein Sicherheitsdienst für Ordnung sorgen. Diese Sorgen hat Anton M. Iby nicht. Obwohl er mit der gleichen Leidenschaft ein anderes Genussmittel herstellt: Wein. In Horitschon baut er ausschließlich Rotweine an, sein „Chevalier 2011“ wurde zum besten Blaufränkisch Österreichs gekürt. Das Problem nur: Eine Weinprobe verträgt sich mit dem Rennradfahren nicht. Eine Weinprobe und Autofahren allerdings auch nicht …

Zwei Radfahrer ruhen sich auf einer Bank aus
Immer mit Aussicht! Stärkung in der Sonne mit der Gewissheit: Der nächste Hügel kommt bestimmt. Peter Fröhlich

Zum Triad Wirtshaus ist es von Bad Schönau zum Glück nur eine Viertelstunde zu Fuß. Als Uwe Machreich, einer der besten Köche Niederösterreichs, dort die erste Flasche Wein zum Kochkurs köpft, können wir guten Gewissens mittrinken. „Rezepte hab ich keine“, sagt der Koch und zaubert mit uns ein köstliches Vier-Gänge-Menü. Und er behauptet selbstbewusst: „Bei mir gibt‘s das beste Wiener Schnitzel.“ Ungläubige Nachfragen kontert er mit: „Machen wir schnell eins“. Fünfter Gang. Und irgendwie ist genau das das Problem an der Buckligen Welt. Trotz unzähliger Höhenmeter ist es nahezu unmöglich, hier die Kalorienbilanz ausgeglichen zu halten. Weshalb unweigerlich unter dem Trikot im Urlaub der 1001. Hügel wächst. Egal. Kann man ja zu Hause wieder abtrainiern. Aber Vorsicht! Ernst Ferstl warnt: „Viele, die auf dem hohen Ross sitzen, können gar nicht reiten.“

Die Reportage wurde im Magazin ROADBIKE, Ausgabe 11/2014, veröffentlicht.