Wer jammert, hat Form.“ Jan Ullrich braucht nur vier Worte, um die Situation perfekt zu durchschauen. Es ist Sonntag Vormittag, zwei Stunden vor dem Start zum Jedermann-Zeitfahren beim Deutschland-Grand-Prix in Bad Saulgau. Jan Ullrich ist das Zugpferd des Vierers, der als „Einheizer“ zuerst auf die Strecke geht. Mit im Team: Tobias Steinhauser,„Ulles“ Kollege zu Profizeiten, Markus Adam, radsportbegeisterter Druckerei-Inhaber sowie Sponsor der Veranstaltung und ich. Ich jammere nicht.
„Sport oder Spaß?“, frage ich vier Wochen vor dem Rennen, als sich unser Vierer gerade bildet. Am Telefon sind wir uns schnell einig. Kein Vollgas, keine Zeitfahrräder, keinen Stress. Spaß! Das ist die gute Nachricht für mich. Die schlechte: Jan Ullrich sitzt wieder regelmäßig auf dem Rad und ist gut in Form. Ob Spaß für ihn auch Spaß für mich bedeutet? Immerhin habe ich ja bis zum Rennen noch ein bisschen Zeit, um meinen Motor auf Touren zu bringen …
„Die ganz Großen müssen sich bei sowas nichts mehr beweisen“, beruhigt mich mein Kollege Felix, bevor ich am Vortag des Rennens nach Bad Saulgau aufbreche. Okay, Ullrich und Steinhauser sollten dann nicht das Problem sein. Aber was ist mit Markus Adam? Von ihm weiß ich nichts – nur wie er aussieht. Google sei Dank! „Das ist er“, flüstere ich meiner Frau erleichtert zu, als ein untersetzter Mann Mitte 50 die Bar betritt. Kurzer Vergleich mit dem Foto auf dem iPhone – und wir sind uns sicher, dass der nächste Tag doch halbwegs entspannt sein wird. „Ich bin Markus Adam“, sagt nur wenige Minuten später der drahtige und austrainierte Mann, der sich neben mich an den Tresen setzt. Verdammt! Was für ein perfides Täuschungsmanöver der Suchmaschine.
„Hast du trainiert?“ „Nicht wirklich.“ Na dann viel Spaß mit Jan Ullrich!“
Ex-Profi Rolf Gölz im Gespräch mit mir vor dem Rennen.
Markus jammert viel. Er war gerade im Schwarzwald und hat dicke Beine, weil er wegen seiner Kumpels den Plan seines Personal-Trainers nicht exakt einhalten konnte. Und überhaupt war die Saison lang. 10.000 Kilometer ungefähr, ab Juli aber nur noch laufen für den New York-Marathon. „Mist! Aus der Nummer komme ich nicht mehr raus“, denke ich mir. Meine Saison war kurz. 2000 Kilometer stehen auf meinem Tacho. 8000 zu wenig. Dafür 90 Kilo auf der Waage. 10 zu viel. Ich bekomme Angst. Markus zum Glück trotz des Gejammers auch. „Die Jungs haben so eine Zellerinnerung“, sagt er, „die würden uns auch um die Ohren fahren, wenn sie ewig nicht trainiert hätten.“
„Hast Du trainiert“, fragt mich Rolf Gölz, die Bad Saulgauer-Rennrad-Legende, als ich am Renntag nach dem Frühstück durch den Startbereich schlendere. „Nicht wirklich“, antworte ich. „Na dann viel Spaß mit Ulle“, grinst Rolf vielsagend. Zwei Stunden vor dem Start treffen Jan Ullrich und Tobias Steinhauser ein. Trikots verteilen, Startnummern montieren, Taktik besprechen. Wie abgemacht und Rolf Gölz‘ Prognose zum Trotz: Nur keinen Stress, keine Materialschlacht, die erste Welle langsam nehmen. Warmfahren? Nicht nötig, wir gehen‘s locker an. Und: Die Rennleitung lässt uns vier Minuten vor unseren Verfolgern raus, damit wir auch als Erste ins Ziel kommen.
Viertel vor eins: Noch zwei Minuten bis zum Start. Steini fährt auf eins, ich auf zwei, Ulle auf drei, Markus auf vier. Bei Kilometer zwei geht‘s hoch. Ich lasse mich aus dem Wind zurückfallen – und platze sofort weg! Markus tritt wie ein Pferd, und bei Jan und Tobias funktioniert die Zellerinnerung prächtig. Meine Zellen dagegen verfügen nur über ein exzellentes Kurzzeitgedächtnis – gefüttert von diversen Grill- und Weißbiersünden im Frühjahr. „Hey!“, rufe ich jetzt schon voller Qualen – die Jungs lächeln gequält. Jan fährt mich wieder ran. Spaß sieht anders aus. Für mich zumindest. „Ruh Dich erst mal hinten aus“, sagt Jan, als wir oben sind. „Ausruhen“? Selbst auf der Abfahrt brennen meine Muskeln, die Lunge pfeift mir das Lied vom Tod. Der Kurs ist wellig. Verdammt wellig. Die Jungs wechseln geschmeidig durch. Ich bin hinten auf der Suche nach Ruhe. Leider vergeblich.
„Bleib einfach dran“, sagt Tobias zu mir, als es wieder hoch geht. Einfach? Ab Kilometer 12 wird der Kurs endlich flacher. Langsam erholt sich mein Körper von der ersten Steigung, es läuft besser, mein Puls rutscht vom dunkelroten in den hellroten Bereich. Es gelingt mir, meine Aufmerksamkeit von den Qualen etwas abzulenken. Jan und Tobias sitzen so elegant wie einst aufdem Rad, Markus liegt auf dem Zeitfahraufsatz und tritt mit seinen gewaltigen Waden gegen den Wind an. Fans an der Strecke jubeln uns zu, Fotografen und Filmteams richten ihre Objektive auf uns. Auf einmal beginnt‘s wenigstens ein bisschen Spaß zu machen …
Die Wellen auf den letzten 15 Kilometern treiben mir aber schnell die Flausen wieder aus dem Kopf. Je näher wir dem Ziel kommen desto klarer wird, dass wir‘s schaffen, nicht von unseren Verfolgern eingeholt zu werden. Die Jungs drücken trotzdem weiter aufs Tempo und ziehen mich im Windschatten mit. Markus führt unseren Vierer stolz auf der Zielgeraden an. Tobias dreht sich nochmal um – ich lass es die letzten Meter völlig am Ende meiner Kräfte ausrollen.
„38er- Streifen sind wir gefahren – gar nicht so schlecht“, sagt Jan zu unserer Zeit für die 42 Kilometer: Eine Stunde, zwei Minuten, 24 Sekunden. Wir duschen und treffen uns zum wohlverdienten Weißbier. „Vierer ist nur für den Schwächsten hart“, antwortet Jan scherzhaft einem Fan und checkt, ob ich darüber lachen kann. „Wir waren ein gutes Team und sind sehr harmonisch gefahren“, sagt er dagegen, als die Kamera eines TV-Senders läuft. Und mir gibt er eine Autogrammkarte, auf der steht: „Dein Windschatten hat mich gerettet.“
Die Reportage wurde im Magazin ROADBIKE, Ausgabe 9/2011, veröffentlicht.
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