6,3 Kilometer. 524 Höhenmeter. 8 Prozent im Schnitt. Maximale Steigung 16 Prozent. Die nackten Zahlen lesen sich eigentlich gar nicht so spektakulär. Aber das Schild, auf dem sie gedruckt sind, kündigt extrem schmerzende Beine an. Und einen Anstieg hoch zur Plätzwiese, der allen, die ihn an diesem Tag bewältigen für immer im Gedächtnis bleiben wird. Einen Anstieg, an dem E-Mountainbiker froh sind, wenn sie noch genügend Akkureserve haben. Einen Anstieg, an dem Gravelbiker mit ihren modernen Carbonrahmen und Scheibenbremsen schon mal umfallen – weil sie die Bodenhaftung verlieren und einfach wegrutschen. Moderne Technik wirkt hier an diesem Tag jedoch ohnehin als störend – inmitten der imposanten Dolomitenlandschaft, wo sich ein Rad-Verrückter nach dem anderen eine steile und bisweilen absurd geröllige Schotterpiste hinaufkämpft. Mit dicken Gängen und auf historischen Rennrädern. Bei der Eroica Dolomiti.
„Das ist total wahnsinnig“, stöhnt Paolo, ein austrainierter Mann aus Asti im blau-weiß gestreiften Wolltrikot. Stahlrahmen. Verchromte Muffen. Rahmenpumpe. Und vor allem Rahmenschalthebel, außenverlegte Zügen sowie Haken- und Riemenpedale – jene drei Kriterien, die das Reglement vorsieht für Räder, die nicht jünger als Baujahr 1987 sein dürfen. „Dieser Anstieg. Mit diesen Fahrrädern“, sagt Paolo, hält kurz inne und legt ein zufriedenes Grinsen auf sein erschöpftes Gesicht: „das ist total wahnsinnig. Aber unglaublich schön.“
Die Eroica Dolomiti: familiärer als das Original
Paolo kennt das Eroica-Original aus Gaiole in der Toskana, wo er selbst schon mitgefahren ist. Dort ist der Mythos L’Eroica 1997 entstanden. Mittlerweile treffen sich Anfang Oktober Abertausende Radfahrer, um während eines mehrtägigen gigantischen Festivals ihrer Retro-Leidenschaft zu frönen. Das 2800-Einwohner-Dorf platzt dann aus allen Nähten – und aus dem feinen Klassentreffen aller Retrofans ist mittlerweile eine Massenveranstaltung geworden mitsamt expandierendem Geschäftsmodell. Das hat dazu geführt, dass es die Eroica mittlerweile nicht nur in Gaiole gibt, sondern mit 14 Veranstaltungen in neun Ländern.
In Innichen im Südtiroler Pustertal ist die Landschaft am Fuße der Drei Zinnen wahrscheinlich am spektakulärsten. Einer, der hier zu den Radsportpionieren gehört, ist Kurt Ploner. Dass hier nun schon zum vierten Mal mitten in den Dolomiten heldenhafte Vintage-Radler fahren, liegt zum großen Teilen an ihm. Schon seit über 25 Jahren hat es ihm die Eroica-Atmosphäre angetan, weshalb er die Gelegenheit ergriff, ein paar hundert Kilometer nördlich der Toskana eine Dolomiten-Eroica zu initiieren. Bei der Streckenwahl stieß er allerdings auf ein signifikantes Problem: „Es gibt keine Dolomitenpässe mehr, die nicht asphaltiert sind.“ Und nicht-asphaltierte Streckenabschnitte gehören nun einmal zum guten Ton bei jedem Eroica-Event.
Spektakuläres Panorama
Aus der Not haben sie allerdings in Südtirol längst eine Tugend gemacht und eine Strecke aus dem Hut gezaubert, die es in sich hat. Gut 350 Fahrer stehen voller Sehnsucht im malerischen Zentrum von Innichen am Start. „Zwei Jahre, weißt du wie lange das ist?“, ruft Dietmar seinem Kollegen Matthias zu. Die beiden sind auf Entzug, nachdem die letzte Eroica Dolomiti der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen ist. Die beiden sind für den Support zuständig und werden das Feld den Tag über mit Zweitakter-Duft einlullen. Mit endloser Liebe zum Detail haben sie ihre VBB2T-150er-Vespas restauriert – und begleiten die Radler in Lederhosen und mit Standpumpe im Rucksack. Sie biegen vor dem Feld ein paar Kilometer hinter Innichen auf die alte Bahntrasse Richtung Schluderbach ab. Auf Schotter. Die Eroica Dolomiti hat begonnen.
Nachdem es vor zwei Jahren fürchterlich kalt und regnerisch war, treffen die Teilnehmer diesmal auf prächtige Bedingungen. Der Hochnebel verhüllt zwar den Blick auf die Drei Zinnen am Morgen, der Tag wird aber noch viel mehr an spektakulären Ausblicken bereit halten – zumindest für diejenigen, die sich nicht für die kurze Strecke mit 73 km und 1250 Höhenmetern entscheiden. Am malerischen Misurina-See treffen sich nochmal alle zu Wildragout, Pfifferlingrisotto oder Gulaschsuppe – danach jedoch trennt sich die Spreu vom Weizen.
Wein an den Verpflegungsstellen
Kurt Ploner nippt an einem Gläschen Roten und sagt grinsend: „Wein an den Verpflegungsstellen? Das haben wir uns in Gaiole abgeschaut.“ Nicht allerdings, das, was nach einer kurzen Asphaltabfahrt hinter dem Schild kommt, das extrem schmerzende Beine ankündigt. „Der Weg zur Plätzwiese war mal eine alte Militärstraße“, erklärt Kurt. „Mittlerweile ist sie aber etwas lädiert.“ Und das hat mit den Strade Bianchi, den feinen und gewalzten Schotterstraßen in der Toskana mal überhaupt nichts zu tun.
Innocenzo, der am Gardasee lebt, stellt sich noch zu einer übertrieben lustige Pose am Misurina-See auf, wahrscheinlich auch, weil er noch nicht weiß, was „etwas lädiert“ genau bedeutet. Sein Rad der Marke „Oscar Egg“ hat er original vom seinem Schwiegervater übernommen und sagt dazu „Wenn du einmal damit gefahren bist, kannst du nicht mehr aufhören.“
Nicht aufhören, das brennt sich jetzt bei Johannes aus dem Bayerischen Wald bei jeder Pedalumdrehung in den Kopf ein. Sein Puls rast. Sein Tritt ist schwer. Die Strecke wird jetzt immer steiler und rutschiger. Aber er kämpft sich eisern nach oben Tritt für Tritt. Im Gegensatz zu den meisten anderen, die längst schieben. Schritt für Schritt. Oben angekommen wartet auf der Dürrensteinhütte eine zünftige Brotzeit. Nicola aus Tremezzina wählt eine unschlagbare Kombination aus Strudel und Bier. Johannes setzt sich an den Nachbartisch und sagt nur: „Krass. Da hoch ist es schon krass. Dieser Schotter ist nicht für Rennräder gemacht.“
Defekt auf den ersten Metern
Mit seiner Freundin hat er vor drei Jahren das erste Mal Eroica-Luft in Gaiole geschnuppert, letztes Jahr waren sie dann in Innichen, haben sich mit ein paar anderen autark organisiert, um die ausgefallene Veranstaltung in den Dolomiten auf eigene Faust nachzufahren. Jetzt sind die beiden frischgebackene Eltern, und Johannes ist alleine in den Dolomiten mit seinem Rad der Marke Tomas unterwegs. Bis zum Start befindet sich der Hobel noch im ursprünglichen Zustand, bevor Johannes schon auf den ersten Metern einen Platten hat und seither mit neuem Hinterreifen fährt. „Aber wenigstens der Reifen am Vorderrad ist noch original“, sagt er fast schon trotzig.
Wieder unten in Niederdorf trifft Johannes auf seine Familie zur entspannten Rast im Hotel Adler. Es ist die letzte Verpflegungsstelle und der Scharfrichter zwischen der mittleren und der langen Runde. Das Ziel in Innichen liegt quasi um die Ecke, während die lange Runde noch mit 23 Kilometern und 800 Höhenmetern extra wartet. Adler-Hotelier Christian Pircher ist ein leidenschaftlicher Rennradsammler. In seiner privaten Ausstellung glänzt unter anderem ein Original-Bianchi-Rad von Marco Pantani. Aber Christian serviert seinen Gästen auch Schnitzel mit Pommes und das eine oder andere Bier, weshalb sich dann einige doch mit „nur“ 95 Kilometern und 2250 Höhenmetern zufrieden geben.
„Die Strecke ist ein Killer“
Kei und Tomasz aus Berlin allerdings hatten von vorneherein geplant, die mittlere Runde zu fahren. „Die Strecke ist ein Killer“, sagen die beiden. Während der tristen Corona-Monate haben sie angefangen, sich für alte Rennräder zu interessieren, Rahmen mit alten Teilen aufzubauen. „Und irgendwann haben wir beschlossen, dass wir mal so eine Veranstaltung mitfahren müssen, wenn wir schon solche Räder haben“, erzählt Tomasz. Fortsetzung alles andere als ausgeschlossen.
Gino dagegen ist ein Eroica-Urgestein. Heute wohnt er zwar in Monza, aber als einer, der aus Gaiole stammt, ist ihm das Fahren auf alten Rädern quasi in die Wiege gelegt. Sein Rad hat schon rund hundert Jahre auf dem Buckel und wiegt satte 16,5 Kilo. Falls er mal schalten will, muss er das Hinterrad umdrehen. Und Bremsbeläge für die Holzfelgen fertigt er selbst – aus Champagnerkorken. „Wenn ich auf dem Fahrrad sitze, bin ich glücklich“, grinst er durch seinen grauen Backenbart. Sein Trick bergauf: Im Stehen fahren – „damit komme ich überall hoch“. Dreimal an nur einem Tag auf den Mont Ventoux zum Beispiel, womit Gino in den „Club de Cinglés du Mont Ventux“ gefahren ist. Bei der Eroica Dolomiti ist er das erste Mal zu Gast – und hat wie seine bärtigen Freunde auf den 118 Kilometern der langen Runde immer ein Lächeln im Gesicht.
Am Ende überwiegt bei der Eroica Dolomiti die Freude
Ein Lächeln, das übrigens bei allen anderen spätestens im Ziel wieder zurückkommt – selbst wenn die Strapazen noch so groß sind. Bei Südtiroler Speck, Veneziano, Wein und Bier – und strahlendem Sonnenschein blicken die Eroica-Helden stolz auf ihre ausgefüllten Stempelkarten. Auch Mirko aus Bozen und Laura aus Brixen genießen die gemütliche Atmosphäre im Zielbereich. „Die L’Eroica in Gaiole ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen“, sagt Mirko, weshalb er mittlerweile die kleineren Veranstaltungen sucht. Was er hier in den Dolomiten schätzt? Vor allem, dass sich das Feld schnell auseinanderzieht: „Man ist hier meistens alleine. Und trotzdem fühlt man sich nicht alleine. Ich liebe diese Veranstaltung, weil alles so entspannt ist.“ Klar, dass Mirko und Laura bei so viel Liebe die lange Strecke unter die Räder genommen haben.
Auch Innocenzo hat im Ziel längst wieder vergessen, wie schmerzhaft, steil und lang der Anstieg zur Plätzwiese wirklich war. „Bei der Eroica lernst du Freunde kennen, von denen du gar nicht wusstest, dass du sie hast“, erzählt er. Unterwegs hat er Christian aus Deutschland getroffen, sie sind zusammen ins Ziel gefahren, haben sich gegenseitig unterstützt. „An solchen Tagen“, sagt Innocenzo, „hast du die Möglichkeit, vom modernen Leben zurück in die Kindheit zu fliehen. Hier sind alle einfach nur Freunde – wie alt sie auch immer sind, wo auch immer sie herkommen, welche Hautfarbe auch immer sie haben.“ Schöner kann es eigentlich nicht sein. Selbst wenn ein scheinbar nicht so spektakuläres Schild extrem schmerzende Beine ankündigt.
Die Reportage wurde im Magazin TOUR, Ausgabe 11/2021, veröffentlicht.