Als im Februar die Dimension des weltweiten Fußball-Wettskandals öffentlich wurde, hatte man den Eindruck, dass die Berichterstattung darüber allenfalls einem Sturm im Wasserglas glich. Im Fall Armstrong dagegen schlugen die Wogen wochenlang hoch. Viele, die sich mit Radsport beschäftigen, haben den Eindruck, dass bei der Berichterstattung mit zweierlei Maß gemessen wird. Profitiert König Fußball in den Medien von einer besseren Lobby?

Es mag vielen Zuschauern und Lesern so vorkommen, aber es ist in keiner Weise von mir und meinen Kollegen, die sich mit investigativem Journalismus befassen, so gewollt. Der Fußball hat bei uns in der Frage, ob wir zu Doping recherchieren, keine Sonderstellung, nur weil die Öffentlich-Rechtlichen Spiele übertragen. Wir sind nicht auf einzelne Sportarten beschränkt und arbeiten ergebnisoffen. Wir können aber nicht überall gleichzeitig sein. Dennoch kann ich die Frage nachvollziehen. Wenn die Verstrickung einer Sportart wie Fußball, etwa in einem Sumpf aus Korruption, in einer Fußball-Zeitschrift oder -Sendung nur beiläufig oder gar nicht erwähnt wird, dann spricht das Bände über das Selbstverständnis mancher dort handelnden Personen. Ich halte es für geboten, dass auch bei solchen Themen tiefgehend und ohne Rücksicht auf Verluste recherchiert wird.

Warum arbeiten Sie selbst nicht am Thema Fußball? 

Sie können sich sicher sein, dass wir in vielen Bereichen intensive Recherchen betreiben – auch im Fußball.

Wenn Sie einen Dopingskandal im Fußball aufdecken würden – glauben Sie, dass dies überhaupt gesendet würde?

Sobald wir Beweise hätten, dürften wir diese auch veröffentlichen. Es ist klar, dass es beim Fußball viele Menschen hierzulande gibt, die darauf gereizt reagieren würden. Jene, die glauben, dass Journalisten in erster Linie Partner – nicht kritischer Beobachter – des Sports sind. Es darf sicher nicht sein, dass wir unsere journalistische Unabhängigkeit, gerade in der kritischen und somit auch Dopingberichterstattung, auf dem Basar von Fußballrechten verkaufen. Aber das war bisher auch nicht der Fall.

ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt im Interview mit Daniel Beck und Jens Vögele
Hajo Seppelt ist einer der Journalisten, die am intensivsten zum Thema Doping recherchieren. Dan Zoubek

Aber der Fußball würde doch dadurch viel von seiner Strahlkraft einbüßen und auch an Wert verlieren …

Ja, das mag schon sein, zumindest für eine gewisse Zeit. Und dennoch: Man wird Fakten über Doping im Fußball nicht hinterm Berg halten können, wenn man Beweise dafür hat. Der viel größere Skandal wäre doch, wenn irgendwann herauskäme, dass Redaktionen oder Sender Rechercheergebnisse über Fußball verheimlichen. Zudem unterschätzen Sie die Tatsache, dass es zum Beispiel in der ARD viele kritische Geister gibt, die sich geradezu diese kritische Berichterstattung wünschen. Wir haben viele, in den unterschiedlichsten Ressorts tätige investigative Kollegen, seit ein paar Jahren auch vermehrt imSport. Es ist in einem öffentlich-rechtlichen Sender, bei dem so viele Menschen arbeiten, nicht vorstellbar, etwas in dieser Dimension unter den Teppich zu kehren. Schon gar nicht, wenn es so brisant wäre.

Obwohl es beim Fußball um gigantische Summen geht? 

Wirtschaftliche Interessen würden die Redaktionen nicht an der Berichterstattung über Doping hindern. Ich halte nichts von Mainstream-Verschwörungstheorien.

„Es kann ja aber nicht sein, dass wir unsere journalistische Unabhängigkeit auf dem Basar von Fußballrechten verkaufen.“

Glauben Sie, dass bei einem Dopingskandal im Fußball auf Live-Übertragungen verzichtet und der Umfang der Berichterstattung verringert würde – analog zum Radsport?

Ich wäre gespannt, wie die Intendantinnen und Intendanten reagieren würden, wenn im Fußball ein ähnlich tiefer Dopingsumpf wie im Radsport nachgewiesen würde. Womöglich würden da dann bei dem einen oder anderen Programmmanager zwei Herzen in der Brust schlagen. Einerseits hat man ein attraktives Produkt, das man für viel Geld gekauft hat und gerne zeigen möchte, andererseits könnte man mit einer Entscheidung, auch einmal etwas nicht oder nur reduziert zu zeigen, beweisen, dass man im Bedarfsfall geradlinig und restriktiv handelt. Aber Fußball und Radsport sind, was das Ausmaß der Dopingverseuchung betrifft, nicht 1:1 vergleichbar. Doch dass Fußball eine dopingfreie Zone war oder ist, stimmt sicher genauso wenig.

Was die Restriktionen betrifft, finden viele Radsport-Fans, dass die Öffentlich-Rechtlichen in puncto Tour-de- France-Berichterstattung übers Ziel hinausschießen.

Zunächst einmal haben wir Journalisten qua Beruf das Recht und die Pflicht des Auswählens. Es ist ein Wesensmerkmal dieses Jobs zu entscheiden, was live übertragen werden soll. Das gilt für eine Tour de France genauso wie für ein Konzert oder eine Königshochzeit. Bei diesen Entscheidungen spielen neben der Quote natürlich auch andere Maßstäbe eine Rolle. Und wenn ich an die letzte Frankreich-Rundfahrt zurückdenke, die live übertragen wurde, nämlich 2011, hatten wir nach all den Dopingskandalen der Vorjahre auch noch stark zurückgegangene Zuschauerzahlen. Das ist Fakt.

„Jan Ullrich ist völlig falsch beraten worden. Er war kein Dopingdrahtzieher, eigentlich tut er mir leid.“

Fakt ist aber auch, dass das Erste über Stunden Boxkämpfe live zeigt, diese Sportart geradezu zelebriert und keine Konsequenzen zieht, wenn es hier positive Dopingfälle gibt.

Es ist kein Geheimnis, dass es in der großen ARD immer wieder Diskussionen darüber gibt, ob und in welcher Form Boxsport übertragen werden soll. Ich gehöre da auch zu denen, die manche Entwicklungen der letzten Jahre kritisch sehen und bin der Meinung, dass es auch beim Boxen längst an der Zeit ist, sowohl die kommerziellen wie auch die pharmazeutischen Hintergründe dieser Sportart eingehender zu untersuchen. Aber wie ich schon sagte, die noch überschaubare Zahl kritischer Berichterstatter kann dicke Bretter nicht überall gleichzeitig bohren. Wir könnten jetzt viele Sportarten durchdeklinieren, bei denen es Verdachtsmomente gibt und bei denen es auch schon Dopingfälle gab – wie im Nordischen Skisport etwa, der ganz sicher stark dopingbelastet ist. Aber im Radsport trat das Problem noch viel offener zutage. Und Personen wie Jan Ullrich oder Lance Armstrong hatten als bedeutende Identifikationsfiguren noch viel mehr Aufmerksamkeit generiert.

ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt im Interview mit Daniel Beck und Jens Vögele
Hajo Seppelt arbeitet frei für die ARD und ist Autor zahlreicher TV- und Radiobeiträge zum Thema Doping in verschiedenen Sportarten und Ländern. Dan Zoubek

Die Meinung, dass der Radsport der Prügelknabe ist, den der Spitzensport braucht, um von anderen Problemen abzulenken, ist also falsch?

Ja. Es mag zwar in der öffentlichen Wahrnehmung zu Unverhältnismäßigkeiten in der Gewichtung kommen, was die kritische Berichterstattung in einzelnen Sportarten betrifft. Allerdings hat der Radsport selbst dazu beigetragen und einen Automatismus in Gang gesetzt, der ständig Negativschlagzeilen produziert. Funktionäre, Sponsoren, Manager und Medien haben gemeinsam in einem Boot gesessen, um einen Sport zu promoten und dabei alle kritischen Aspekte jahrelang zu ignorieren.

Doping und Korruption ist also nicht nur ein Problem des Radsports, wie es oft den Anschein erweckt?

Keineswegs! Wenn es den Rechercheaufwand, den es im Radsport gegeben hat, auch in anderen Sportarten gäbe, dann würde der eine oder andere Funktionär ganz schön ins Schwitzen geraten. Es ist eine verlogene Scheinwelt, in der Funktionäre in pseudodemokratischen Institutionen mit Millionen oder  gar Milliarden jonglieren, ohne dass eine öffentliche Kontrolle stattfindet. Das ist mir selbst erst nach einigen Jahren als Sportreporter klar geworden – aber so funktioniert Spitzensport. Hinzu kommt, dass es beim Doping eigentlich nur Profiteure gibt, solange es nicht aufgedeckt wird, und daher niemand ein Interesse hat, darüber zu reden. Die Medien profitieren von spektakulären Leistungen, die Sponsoren von hoher Reichweite über die Einschaltquote, die Manager bekommen höhere Prämien, die Athleten bessere Werbeverträge, die Trainer erhalten höhere Gehälter, und die Ärzte dürfen überall dabei sein und mitreisen. Das bedeutet eine Win-win-Situation für alle Beteiligten in diesem Zirkus. Deshalb stelle ich  die These auf: Es geht vielen Repräsentanten des organisierten Sports, wenn sie denn ehrlich zu sich selbst wären, gar nicht primär darum, Doping wirkungsvoll zu bekämpfen, sondern sie sind vielmehr darum bemüht, das Schmuddelthema aus der öffentlichen Diskussion rauszuhalten. Denn die Debatte ist letztlich für einen Sportverband geschäfts- und imageschädigend.

ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt im Interview mit Daniel Beck und Jens Vögele
Von 1992 bis 2006 war Hajo Seppelt ARD-Live-Kommentator bei Olympischen Spielen sowie Welt- und Europameisterschaften im Schwimmen. Nachdem er die unkritische Dopingberichterstattung seines Senders moniert hatte, wurde er von dieser Aufgabe entbunden. Dan Zoubek

Ist das der Grund dafür, dass Sie für viele so etwas wie ein „rotes Tuch“ sind?

Sicherlich haben viele Sportler und Funktionäre Ressentiments gegenüber mir und meiner Arbeit. Dabei sollte man ja mal die Frage stellen, warum Sportverbände unser Schaffen nicht begrüßen, sondern Angst davor haben. Man könnte sich ja auch fragen, warum Sportler sich nicht darüber freuen, wenn Doping aufgeklärt wird. Statt Antworten, bekommt man das versammelte Schweigen.

Mittlerweile ist klar, dass der Radsport ein signifikantes Dopingproblem hatte. Haben Sie Verständnis für Sportler, die in diesem System gedopt haben? 

Ich kann nachvollziehen, wenn etwa ein Bernhard Kohl sagt: Du stehst an einer Weggabelung und musst dir überlegen, machst du’s, oder machst du’s nicht? Dadurch, dass der Radsportler schon durchs System infiziert ist, wird der entscheidende Schritt ein kleiner. Ich würde den einzelnen Athleten nicht dämonisieren. Die Verantwortung für dieses System tragen vor allem Funktionäre, die dieses System am Laufen halten, und die Politik, die nur zuschaut. Der Athlet macht dennoch mit und profitiert auch. Er ist quasi Täter und Opfer in Personalunion.

Heißt das, dass so jemand wie Lance Armstrong keine Verantwortung trägt?

Armstrong ist für mich – im Gegensatz zu vielen anderen – wahrlich kein Opfer des Systems. Er ist Täter. Er hat versucht, Leute fertigzumachen und Existenzen zu zerstören.

Und Jan Ullrich?

Ullrich lässt sich in keiner Weise mit Armstrong und anderen Heroen vergleichen. Ich kenne ihn zwar nur aus der Entfernung, aber er scheint mir ein völlig anderer Mensch zu sein. Das haben mir auch viele, die ihn besser kennen, bestätigt. Er ist in dieses System reingerutscht und davon aufgesogen worden. Er war hoch talentiert, eigentlich mehr ein Good als ein Bad Guy. Er ist völlig falsch beraten worden und so auch auf diese Bahn geraten. Ihn zum bösen Buben zu stilisieren, angesichts der Tatsache, dass es sich um ein systemimmanentes Problem des Sports handelt, halte ich für falsch. Ullrich war kein Dopingdrahtzieher, eigentlich tut er mir leid.

Interessiert es heute noch, ob früher jemand gedopt war?

Ich glaube schon, dass man über lange zurückliegende Fälle berichten sollte, solange der Sportler behauptet, sauber gewesen zu sein.

„Spitzensport ist eine verlogen Scheinwelt, ohne dass eine öffentliche Kontrolle stattfindet.“

Andererseits sind die Menschen doch auch der immer gleichen Geschichten über Doping überdrüssig.

Ich glaube, dass wir eine Intellektualisierung des Sportjournalismus benötigen und dass das Wiederkäuen des ewig Gleichen auch nichts bringt. Dopingrecherchen sind nur dann interessant, wenn sie substanziell Neues zutage fördern. Und Alibi-Berichterstattung, um kritische Berichterstattung zu suggerieren, ist am Ende doch sehr durchsichtig. Ich bin nicht dafür, dass wir ständig über Doping berichten, aber wenn wir etwas Neues haben, dann müssen wir es auch veröffentlichen.

Dann ist der Fall Jan Ullrich also abgearbeitet?

Ich finde es bedauerlich, dass Jan Ullrich sich nicht öffentlich äußert. Genauso übrigens wie Kristin Otto (ehemalige Weltrekord-Schwimmerin der DDR und heutige ZDF-Sport- moderatorin, Anmerkung der Red.). Solche Lichtgestalten des Sports könnten uns helfen, die Strukturen und die Abhängigkeiten in diesem System zu verstehen. Wir würden heute Diskussionen anders führen, wenn sich die Protagonisten dazu geäußert hätten. Dass sie nichts sagen, ist umso bedauerlicher, da aus meiner Sicht die Sachlage klar ist.

„Verglichen mit anderen Sportarten hat sich im Radsport duch das Kontrollsystem viel bewegt.“

Hat sich das System Radsport geändert?

Verglichen mit anderen Sportarten hat sich im Radsport durch das Kontrollsystem mit dem biologischem Pass und einer Überprüfung durch eine Expertenkommission einiges bewegt. Es gibt viele Kontrollen, bei denen ja nach wie vor Fahrer aus dem Verkehr gezogen werden. Aber all diese Bemühungen und Erfolge werden sofort wieder konterkariert durch Funktionäre wie UCI-Präsident Pat McQuaid, der bei dem Dopingfall Contador kungelte, oder seinem Vorgänger, Herrn Verbruggen, der Spenden von Herrn Armstrong annahm und ein solches Verhalten bis heute kaum für problematisch hält.

Was ist folglich zu tun? 

Neuanfang. Aber hier stehen wir vor einem generellen Problem im Spitzensport, da solch ein internationales Präsidium von den nationalen Verbänden gewählt wird, die mit dem System verflochten sind. Ich halte es für eine überlegenswerte Strategie, dass sich Leute engagieren, die mit den alten Seil- und Machenschaften nichts zu tun haben wollen.

Wegen des katastrophalen Krisenmanagements gibt es mittlerweile ja auch Stimmen, die fordern, Doping freizugeben.

Das wäre fatal! Wenn plötzlich ein verdeckt arbeitender Geschäftszweig offen arbeiten kann, wenn Medikamente nicht mehr missbraucht, sondern eigens dafür hergestellt werden, ist das ein Horrorszenario für den Sport! Das käme einem Wettrüsten wie in der Formel 1 gleich: Wer mehr Geld hat, kann den stärkeren Motor bauen, das beste Gehäuse entwerfen, es würden geradezu bizarre artifizielle Wesen kreiert! Es wäre weit schlimmer als jetzt. Daher sind die Personen, die der Dopingfreigabe das Wort reden, für mich weltfremde Salon-Feuilletonisten, die sich mit der Realität des Spitzensports nicht ausreichend auseinandergesetzt haben.

„Alle Bemühungen und Erfolge im Radsport werden sofort wieder konterkariert durch Funktionäre wie UCI-Präsident PatMcQuaid.“

Gibt es einen Sport, den Sie sich noch gerne ansehen? 

Ich gucke ab und zu mal Handball im Fernsehen. Ich erkenne aber bei mir schon lange keine Begeisterung für den Leistungssport mehr.

Und das, obwohl Sie mal Sport studiert haben?

Das ist lange her. Damals habe ich es studiert, weil ich Lehrer werden wollte. Auch wenn ich mit Spitzensport nicht mehr so viel anfangen kann, bin ich ein großer Verfechter des Kulturguts Sport. Ich habe mit Kollegen vor gut zehn Jahren sogar eine Laufbewegung gegründet, um die Leute zum Laufen zu animieren. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht! Sport ist ein wichtiges Kulturgut, was leider stark von ökonomischen Faktoren beherrscht wird. Das bedaure ich sehr. Ich finde es richtig, dass  Opernhäuser gefördert werden, aber gleichzeitig Hallenbäder zu schließen – das halte ich für inakzeptabel. Wir können nicht das breitensportliche Schwimmen, das zur Volksgesundheit beiträgt, so stiefmütterlich behandeln. Im Gegensatz dazu trägt der Hochleistungssport in keiner Weise zur Volksgesundheit bei.

Wenn Sie zurückblicken: Was hat Ihre Arbeit in den vergangenen Jahren bewirkt?

Wir bekommen viel Lob und Anerkennung. Auch im Kreis der Kollegen, die uns am Anfang als Exoten belächelt haben, erhalten wir mehr respektvolle Unterstützung. Es gibt keine Debatten mehr darüber, ob unsere Arbeit wichtig ist. Der Mediziner Perikles Simon hat gesagt, dass der investigative Journalismus in der letzten Zeit mehr zur Dopingaufklärung beigetragen hat als die Dopinganalytik. Das mag ein wenig übertrieben sein, aber wenn es in diese Richtung geht, ist das auch schon gut. Ich glaube, dass wir, die wir uns diesen Themen widmen, in der kritischen Öffentlichkeit einiges an Aufmerksamkeit generiert haben. Der Sport hat eben zwei Seiten: eine schöne und eine hässliche.

Das Interview wurde im Magazin ROADBIKE, Ausgabe 5/2013, veröffentlicht.