Sport ist eigentlich nicht so ihr Ding. Okay, Frances war Hobbyläuferin. London Marathon immerhin. Aber als ihre Söhne Jay und Jack auf die Welt kamen, musste sie kürzer treten. Helen, Janette und Niki dagegen mögen es eher gemütlich und teilen eine große Leidenschaft für Kekse. Es sind vier völlig unterschiedliche Frauen. Frances, die nichts aus der Ruhe bringen kann. Helen, die immer fröhlich und dauernd am Quatschen ist. Janette, die Draufgängerin mit ihrem unglaublich trockenen Humor. Und Niki, die Verlässliche und Ernste, der niemals die Feuchtigkeitstücher ausgehen würden. Aber sie haben außer den Keksen auch ein paar andere Dinge gemeinsam.
Alle vier leben in und um York, der bildhübschen Stadt im Norden Englands. Alle vier sind verheiratet und Mütter von jeweils zwei Kindern. Alle vier sind zwischen Mitte vierzig und Anfang fünfzig, und alle vier haben es zu was gebracht. Frances Davies als Anwältin. Helen Butters als Kommunikationsexpertin. Janette Benaddi als Selbständige. Und Niki Doeg als Unternehmensberaterin. Diese vier Frauen sitzen an Heiligabend auf einem acht Meter langen und zwei Meter breiten Boot, tanzen ausgelassen, tragen lustige Kopfbedeckungen, trinken Mango-Gin und grölen im tosenden Wind zu ABBA. Es ist das erste Weihnachten ohne ihre Familien, die weit, weit weg zu Hause in England sind. Frances, Helen, Janette und Niki rudern gerade über den Atlantik. Von der kanarischen Insel La Gomera nach Antigua in der Karibik. 3000 Meilen. Ohne jegliche Unterstützung. Mamma mia!
Nummer 48! Sie sind eine Gefahr für sich selbst und alle anderen auf dem Fluss!“ Noch nie im Leben sind diese vier Frauen ein Ruderrennen gefahren. Zehn Meilen mal als Training auf dem River Ouse. Und wieder zehn Meilen zurück. Natürlich mit ausgedehnter Pause samt deftigem Lunch im Pub vor der Rückfahrt. Und jetzt demütigt sie der Moderator vor allen Zuschauern – bei ihrer Rennpremiere. Frances, Helen, Janette und Niki lernten sich zuvor im Ruderclub ihrer Kinder kennen. Sie sind etwas aufgeregt, als sie sich für das große Dinner des St. Peter’s School Boat Club Dinner im Januar vorbereiten. Es ist der erste Abend, an dem sich ihre Männer treffen. Werden sie sich verstehen?
„Vielleicht klingt es bescheuert, aber wir können das schaffen“
Es wird eine lustige Runde. Der Weißwein schmeckt vorzüglich. „Warum rudern wir eigentlich nicht mal über den Atlantik?“, fragt Frances plötzlich. Die Reaktion darauf: freudetrunken. Aber nicht nachhaltig. Ein gutes Vierteljahr später, längst wieder im nüchternen Alltag gefangen, reißt Frances die Hutschnur. Seit 20 Jahren um halb sechs aufstehen. Jeden Tag dasselbe. 25 Meilen ins Office und abends wieder zurück. Die einzige Zeit, die sie neben Job und Familie wirklich für sich hat, sitzt sie im Auto. „Vielleicht klingt es bescheuert, aber wir können das schaffen“, schreibt sie vom Schreibtisch aus eine E-Mail. Es braucht genau 13 Minuten, bis Janette antwortet: „Ich bin dabei!“
Dass es noch zweieinhalb Jahre bis zum Start dauern wird, ist zunächst Janettes größtes Problem. Es liegt in ihrem Naturell, dass sie los will. Sofort! Aber Janettes Naturell hilft auch dabei, dass das Projekt schnell konkrete Formen annimmt. „Wir brauchen ein Boot. Ich kaufe eines“, entscheidet sie kurzerhand, nachdem sie es nervt, dass die Leute zwar staunen, wenn sie erzählen, sie würden über den Atlantik rudern, aber sie nicht wirklich ernst dabei nehmen. Sponsoren lassen deshalb den Geldbeutel erst mal lieber zu.
Charlie Pitcher, der selbst schon über den Atlantik gerudert ist, baut in Handarbeit Boote aus Carbon. Mit Wasserentsalzer, GPS-System, Autopilot, Akkus, die von Solarpanels gespeist werden. Und mit zwei extrem minimalistischen Kabinen, deren Schotten immer geschlossen sein müssen. Frances, Helen, Janette und Niki taufen das Boot auf den Namen Rose. Rose ist unsinkbar. Und Janette auf einen Schlag 67 000 Pfund ärmer. Für die Mission Atlantic Challenge gibt es ab sofort definitiv kein Zurück mehr. Mamma mia!
Die Atlantic Challenge ist ein Rennen, in dem rund 30 Boote mit einem, zwei, drei oder vier Ruderern den Atlantik kreuzen. Von Osten nach Westen. Die schnellsten schaffen es in unter 30 Tagen. Die langsamsten haben maximal 90 Tage Zeit. Zwischen Start und Ziel sind die Ruderer komplett auf sich alleine gestellt, das Rennen startet Mitte Dezember, weil die See dann am ruhigsten ist, die Bedingungen am ungefährlichsten. Doch diesmal verzögert schlechtes Wetter den Start. Frances, Helen, Janette und Niki haben ihre Familien kurz bevor’s losgehen sollte, nach Hause geschickt. Wollten den Abschied nicht unnötig schwierig machen. Aber jetzt hängen sie in der Blue Marlin Bar rum, wo reichlich Gin Tonic fließt, und warten. Sie empfinden es als unwirklich, unter Menschen zu sein, die keine Erklärung dafür brauchen, warum man über den Atlantik rudern will. Weil sie’s alle selbst bald tun.
Als es endlich losgeht, übernimmt Team Yorkshire Rows kurz die Führung, weil es die Ehre hat, als erstes Boot raus zu dürfen. Frances bemerkt unter dem Eindruck der gewaltigen Wellen lapidar: „Das ist kein Ozean für Anfänger.“ Die ersten Tage geraten zur reinsten Odyssee. Helen, das wussten sie von ihrer Trainingsfahrt über die Nordsee, würde extrem unter Seekrankheit leiden. Sie spuckt sich vom ersten Moment an die Galle aus dem Leib. „This is worse than bloody childbirth!“, flucht sie. Sie wird von Stunde zu Stunde kraftloser.
Das Team rudert schon mit halber Kraft, als beim Blick zurück noch die Küste in Sichtweite ist
Ihre Freundinnen machen sich ernsthafte Sorgen. Deren Prognose: Erstens würde Helen in diesem Zustand keine Sekunde rudern können. Zweitens würde sie sterben. Und Janette hatte schon auf der Nordsee gewarnt: „Wir können es uns nicht leisten, totes Gewicht mitzuschleppen.“ Als Niki, noch nicht gewöhnt an das massiv schaukelnde Boot, einen Moment unachtsam ist, spitzt sich die Lage zu. Sie stürzt. Bricht sich das Steißbein. Das Viererteam rudert schon mit halber Kraft, als beim Blick zurück noch die Küste La Gomeras in Sichtweite ist. Mamma mia!
Doch Helens Würgereize beginnen nachzulassen. Bei Niki fangen die Diclofenac aus der 800 Pfund teuren Reiseapotheke an zu wirken. Beide fühlen sich wie neu geboren. Es ist Heiligabend. Die vier Frauen vermissen ihre Ehemänner, ihre Kinder. Und sind gleichzeitig voller Hoffnung, dass es bergauf geht. „Sollen wir weiterrudern und einfach ignorieren, dass es Weihnachten ist?“, fragt Janette und knackt dabei den Verschluss des Mango-Gins. Im Übermut dreht sie die Lautsprecher auf, der Autopilot hält das Boot auf Kurs. Jetzt, nachdem sie gerade mal fünf Tage unterwegs waren, sitzen sie da und grölen im tosenden Wind zu ABBA. „So oft, dass am Ende sogar die Fische den Text konnten. So laut, weil wir wussten, dass niemand uns hören konnte. Und wir tanzten dazu so ekstatisch, weil wir wussten, dass niemand uns sehen konnte.“ Helen kriegt heute noch Gänsehaut, wenn sie sich daran erinnert. „Dieses Weihnachten wird niemand von uns jemals vergessen.“
Auch weil die Party folgenschwer ist. Die Akkus, die, weil die Sonne kaum scheint, ohnehin nicht prall geladen sind, gehen in die Knie. Die Spannung sinkt unter zwölf Volt, die Stimmung auf den Tiefpunkt. Und Niki sagt: „Wir sind so dumm!“ Es braucht eine Woche, die Akkus wieder aufzuladen. Bei gutem Wetter. Aber jetzt gibt es erstmal Strom nur noch für das Allernötigste. Der elektrische Wasserentsalzer: unbrauchbar. Frances, Helen, Janette und Niki müssen ihr Trinkwasser von Hand aufbereiten. Mit einer Pumpe. 16 Liter am Tag. Es dauert 45 Minuten – um gerade mal einen Liter Wasser zu entsalzen. Es fühlt sich so an, als würde der Atlantik sie bestrafen für ihren respektlosen Umgang mit ihm. Und die Strafe raubt ihnen die so wertvolle Möglichkeit, sich zu erholen. Helen ist niedergeschlagen. Wie noch niemals zuvor. Mamma mia!
Aber die vier Freundinnen sind vorbereitet. Sie wussten, dass nicht die körperliche Herausforderung das Problem sein würde. Sie rudern meist nackt in Zwei-Stunden-Schichten. Klamotten würden stören, scheuern, stinken. Keine von ihnen schläft während der 67 Tage länger als 90 Minuten am Stück. Der Körper gewöhnt sich daran. An die Belastung. An die Schmerzen. Auch ans Essen aus der Tüte. Aber der Kopf? Sie haben gelernt, voreinander auf die Toilette zu gehen, weil sie wussten, dass auf dem engen Boot ein Eimer ihr Klo sein würde. Sie haben mit einer Mentaltrainerin durchgespielt, wie sie unter Druck und Stress aufeinander reagieren würden. Und sie haben sich versprochen, aufeinander aufzupassen und noch Freundinnen sein zu wollen, wenn sie in Antigua ankommen.
Die Hitze ist unerträglich, die Luft wird immer schlechter
Das Vertrauen in Rose, die selbst senkrechte Wellen besiegt, wächst von Tag zu Tag, das macht sie zuversichtlich. Aber Niki kriegt auf einmal Platzangst. Dummerweise gerade als Alex vorbeischaut. Alex heißt der erste Wirbelsturm, der seit 1955 im Januar auf dem Atlantik aufzieht. Er trifft das Boot mit voller Wucht. Die vier Frauen kauern in den Kabinen. Die Hitze ist unerträglich, die Luft wird immer schlechter. Niki durchlebt die Hölle, während Frances sich von dem drei Tage anhaltenden brachialen Wirbelsturm nicht aus der Ruhe bringen lässt.
Sie sitzen zwar alle im selben Boot, haben aber unterschiedliche Sorgen. Als Helen, weil es ihr nicht mehr schlecht wird, das Abenteuer jeden Tag mehr genießen kann, wird Nikis Klaustrophobie immer schlimmer. Sie leidet, wenn sie nicht rudert. Frances versucht die Langeweile zu überwinden, indem sie sich gedanklich nur noch von Schicht zu Schicht hangelt. Und für Janette wird die Verantwortung, die sie als Skipperin trägt, manchmal zur großen Last. Sie will ihre Freundinnen gesund ans andere Ende des Ozeans bringen.
Als sie völlig erschöpft und überglücklich ankommen, haben sie unheimlich viel gelernt. Das würde ihnen helfen, wenn sie noch mal loszögen. Ihre Erfahrung helfen ihnen aber auch, in ihren Alltag zurückzukehren. „Ich schlafe besser als jemals zuvor“, sagt Niki. „Wenn ich morgen sterben müsste, hätte ich meine Zeit gut genutzt“, glaubt Frances. „Wenn du mental leidest, sing einfach los!“, empfiehlt Helen: „Vor allem ABBA.“ Und Janette sagt: „Jeder Moment war es wert. Ich bin froh, dass wir 67 Tage unterwegs waren. Wir hatten vom Startgeld mehr als doppelt so viel wie die Sieger.“ Und dennoch genießt sie es, dass die Zeit auf dem Boot vorbei ist: „Auch weil ich nicht mehr die Muschis von alten Frauen sehen muss.“
Die Reportage wurde veröffentlicht im Magazin LIMITS, Ausgabe 1/2019 und in den Badischen Neuesten Nachrichten vom 14. April 2018.