„Wenn alle Stricke reißen“, sagte ich zum Kollegen André, ohne mir der Wortwahl wirklich bewusst zu sein, springe ich halt irgendwo runter. Eigentlich war André dafür auserkoren, diesmal an seine Grenzen gehen zu müssen. Aber irgendwann war’s zu spät dafür. André in Elternzeit und alle Stricke waren gerissen. Und so stehe ich da oben auf diesem Staudamm-Monster im Tessiner Verzascatal, von dem es 220 Meter in die Tiefe geht. Ich schaue runter in den Abgrund, gesichert an einem dicken Gummiseil. Mein Puls rast, meine Hände sind schweißnass, mein Körper im Alarmzustand – mit dem festen Willen zu überleben. Und deshalb sage ich zu Anton, der neben mir steht: „Nein, ich springe nicht. Da kann kein Mensch freiwillig runterspringen.“

Der Verzasca-Staudamm mit einer der höchsten Bungeesprunganlage der Welt
Nein! Da kann kein Mensch freiwillig runterspringen“ Dan Zoubek
Ansicht des Verzasca-Staudamms
Die Dimensionen des Verzasca-Staudammes sind furchteinflößend: 220 Meter tief, 380 Meter lang, bis zu 25 Meter dick. Dafür wurden 660.000 Kubikmeter Beton verbaut. Dan Zoubek

Anton Draganits steht seit 22 Jahren regelmäßig da oben. Er hat ein Jahr, nachdem James Bond in „Golden Eye“ vom Verzasca-Damm sprang, diesen Sprung für jedermann möglich gemacht – und eine der höchsten stationären Bungee-Sprunganlagen der Welt installiert. Der Blick in die Tiefe ist bodenlos. Die Gesichter jener, die hier stehen, von Angst gezeichnet. Und auch wenn einige wenige im letzten Moment der Mut verlässt und deshalb nicht alle runterkommen. Draganits hat zumindest alle wieder hochgebracht.

Warum tun Menschen etwas, vor dem sie wahnsinnig Angst haben?

„Verglichen mit anderen Extremsportarten ist Bungeespringen sehr sicher“, sagt Draganits. Die schweren Unfälle in den vergangenen Jahren seien weltweit an einer Hand abzuzählen – bei Millionen Sprüngen jährlich ein verschwindend kleines Risiko. Rein rational betrachtet müsste der Sprung in die Tiefe folglich von weniger Sorgen begleitet sein als die tägliche Fahrt ins Büro. Und trotzdem nennt Draganits das da oben auf der Absprungrampe einen „Schmelztiegel der Emotionen“. Selbst Leute wie er, die schon Hunderte Mal sprangen, sind angespannt, müssen sich überwinden, den Schritt ins Leere zu wagen. Aber warum ist das so? Warum haben Menschen Angst vor etwas, bei dem quasi nichts passieren kann? Und warum tun Menschen etwas, vor dem sie wahnsinnig Angst haben?

Eine Frau beim Bungee-Sprung
Emma Hellier aus Yeovil in England brauchte fünf Anläufe, bis sie sich endlich traute abzuspringen. Dan Zoubek
Eine erleichterte und strahlende Frau nach dem Bungee-Sprung
 „Unbeschreiblich“, sagt sie zu dem Gefühl: „Ich bin stolz, dass ich diese Herausforderung gemeistert habe.“ Und sie ist sich sicher: „Ich würde noch mal springen.“ Dan Zoubek

„Der Sprung würde eigentlich den sicheren Tod bedeuten“, sagt der Sportmediziner Dr. Lutz Graumann. Deshalb müsse beim Bungeespringen riesige Angst, Todesangst, bewältigt werden. Wenn wir an der Absprungkante stehen, meldet sich vehement unser Überlebenstrieb, der tief im menschlichen Stammhirn verankert ist, und flutet den Körper mit den Stresshormonen Adrenalin und Cortisol. Der präfrontale Cortex, der Teil des Gehirns, der uns zur Selbstreflexion befähigt und so rationale Entscheidungen steuern kann: ausgeschaltet. „In dieser extremen Angstsituation“, sagt Graumann, gibt es drei mögliche menschliche Reaktionen: „Entweder du erstarrst, du flüchtest oder du stellst dich und springst.“

Eine Frau beim Bungeesprung
 Michèle Fuhrer aus Hallau in der Schweiz stieg hoch, sprang und strahlte: „Ich hatte weniger Angst, als ich gedacht habe.“ Wieder oben, sagte sie nicht viel mehr als „geil“. Dan Zoubek
Eine glückliche und erleichterte Frau nach dem Bungessprung.
 Das Gefühl beim Springen, abgefangen zu werden, sich getraut zu haben. „Einfach geil!“ Dan Zoubek

Die Hauptaufgabe von Anton Draganits ist deshalb, den präfrontalen Cortex wieder zum Sieger übers Stammhirn zu machen. „Wir brauchen natürlich sehr viel Empathie da oben“, sagt er. Das Schwierige: der Moment des Absprungs. Die bewusste Entscheidung zu treffen, gegen die sich alle Sinne und Instinkte massiv wehren. „In den allermeisten Fällen schaffen wir das“, sagt Draganits, „auch wenn jemand richtig blockiert ist, haben wir unsere Methoden, das zu lösen.“ Von 100 potenziellen Springern trauen sich, so Draganits, maximal zwei nicht. Erstarren. Laufen davon.

Der Verzasca-Staudamm mit einer der höchsten Bungeesprunganlagen Europas.
Du stehst da oben und denkst: Wie krank ist das eigentlich? Dan Zoubek

„Sobald du springst, verändert sich alles um dich herum“, erklärt Graumann die Prozesse, die im Flug beginnen. Das Gehirn schaltet gewisse Areale aus, man befindet sich plötzlich im Tunnel.“ Man blendet auf einmal Sachen aus, hat eine eingeschränkte, aber fokussierte Wahrnehmung, weil der Körper glaubt, er hätte über die Konzentration auf das Wesentliche eine Chance zu überleben. Hätte er in diesem Fall aber mit Sicherheit nicht.

Du stehst da oben und denkst: „Wie krank ist das eigentlich?“

Das Überleben hängt einzig und alleine an einem elastischen Seil. Und das löst, sobald es greift, eine gigantische Reaktion aus. Neurotransmitter, biochemische Stoffe, die Reize von einer Nervenzelle zu einer anderen Zelle weitergeben, verändern sich, es wird ein wahrer Cocktail an Glückshormonen ausgeschüttet: Dopamin, Serotonin, Endorphin. „Diesen Zustand bezeichnet man auch als Flow, und in den kommt man, wenn man seine Komfortzone verlässt“, erklärt Graumann: Je größer die Herausforderung dabei, desto intensiver ist das Erlebnis. Der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi hat das in den 70er Jahren in seinem Flow-Modell beschrieben. Auf der x-Achse wird die Fähigkeit einer Person definiert, auf der y-Achse die Schwierigkeit der Herausforderung.

Eine Frau beim Bungeesprung vom Verzasca-Staudamm
 Leah Bremer aus Calw hat den Sprung geschenkt bekommen. Dass sie tatsächlich springt, hat fast niemand geglaubt. Dan Zoubek
Eine glückliche und strahlende Frau nach dem Bungeesprung vom Verzasca Staudamm
 „Ich hatte schon ziemlich Angst, aber das muss man mal gemacht haben“, sagt sie.
Und: „Ich bin schon ein bisschen stolz auf mich.“
Dan Zoubek

Ein von links unten nach rechts oben verlaufender Korridor definiert den Bereich, in dem Menschen sich im Flow befinden können, dabei weder überfordert noch unterfordert sind. Während hochalpine Klettereien (sehr schwer und nur mit außergewöhnlichen Fähigkeiten machbar) rechts oben angesiedelt wären, fände man so etwas wie Autofahren eher links unten. Bungeespringen allerdings hebelt dieses Modell aus. Die Bedrohung ist immens, die Herausforderung gewaltig. „Du stehst da oben und denkst: Wie krank ist das eigentlich?“, sagt Graumann. Aber, weil man zum Bungeespringen keine Fähigkeiten braucht, es eigentlich jeder kann, ist es dabei möglich, „etwas Ähnliches zu empfinden wie Reinhold Messner, wenn er auf einen Achttausender klettert“.

Draganits beschreibt das so: „Die Energie, die du in so einen Sprung investierst, bekommst du mehrfach zurück.“ Das Phänomen: Das Gehirn gewöhnt sich daran, will diesen Zustand immer wieder. „Deshalb können sich zum Beispiel viele Extremsportler nicht mit ihren Erfolgen zufriedengeben und suchen immer neue Herausforderungen“, sagt Graumann. Aber auch im Ausdauersport auf bescheidenem Hobbyniveau spielen sich solche Vorgänge im Gehirn ab, das das Erreichen eines selbst gesetzten Ziels als Belohnung empfindet. Medizinisch gesehen sind das sogar Mechanismen wie bei Suchtkranken. Nur sind die Auswirkungen von Sport auf den Körper in aller Regel positiver als die einer Drogenabhängigkeit.

Ein Bungeespringer stürzt sich 220 Meter in die Tiefe
Sprung ins Bodenlose: Sieben Sekunden dauert der Fall in die Tiefe. Sieben Sekunden, die wie eine Ewigkeit wirken. Dan Zoubek

Ich habe unfassbare Angst. Mein Stammhirn hat die Macht.

„Sehr, sehr viele Springer kommen wieder“, sagt Draganits. Nicht sofort, aber nach ein, zwei Jahren trifft er auf etliche Wiederholungstäter. Die Praxis scheint die medizinische Theorie zu bestätigen. Aber warum trauen sich nur manche Menschen? Und warum können andere ganz ohne Nervenkitzel ein Leben auf dem Fernsehsessel verbringen? Graumann verweist auf Studien, die dafür einen erhöhten Testosterongehalt – sowohl bei Männern als auch Frauen – verantwortlich machen. „Manche mögen Risiko einfach mehr als andere“, sagt der Sportmediziner. Man könne deshalb auch bei Extremsportlern ähnliche Prozesse und Muster erkennen wie beispielsweise bei besonders draufgängerischen Glücksspielern oder Börsenmaklern.

Jens Vögele beim Selbstversuch kurz vor dem Absprung beim James-Bond-Bungeesprung vom Verzasca-Staudamm
Zugegeben: Ich mag es nicht, wenn es tief runter geht. Und dann stehst du da oben und alle deine Sinne und Instinkte sagen: Spring nicht! Dan Zoubek
Jens Vögele nach dem James-Bond-Bungeesprung vom Verzasca-Staudamm
Alles sträubt sich gegen den Wahnsinn. Aber am Ende springst du eben doch. Das ist absurd! Dan Zoubek

„Nein, ich springe nicht“, sage ich zu Anton. Er redet mit mir, aber ich höre nicht zu, kriege nichts davon mit. Ich habe unfassbare Angst. Mein Stammhirn regiert mit voller Macht. Ich will umdrehen. Kneifen. Alles in mir sträubt sich gegen diesen Wahnsinn. Aber ich tippele nach vorne. 3, 2, 1 – und stürze in den Abgrund. Nach sieben Sekunden ist alles vorbei.

Das Seil fängt mich sanft auf, schleudert mich noch drei, vier Mal nach oben. Ich pendele aus. Die Boje, die mich wieder hochziehen wird, fährt herunter. Stoisch greife ich sie, hake den Karabiner in meinen Gurt ein. Wieder oben, habe ich das gleiche irre Grinsen im Gesicht wie alle anderen, die sich getraut haben. Und immer, wenn ich von dem Sprung erzähle, kehrt es wieder. Trotzdem bin ich froh, dass ich erst mal kein Verlangen nach einem nächsten Sprung habe. Aber irgendwie: Mal wieder ’ne Runde zocken gehen, wär’ eigentlich ganz cool!

Die Reportage wurde veröffentlicht im Magazin LIMITS, Ausgabe 2/2018.