Cola, Cola, Cola? Ich, ich, ich! Die Hilferufer an der letzten Verpflegungsstation auf dem Weg zum Timmelsjoch lechzen nach Erbarmen. Die Zeit wird knapp. Der Körper wehrt sich. Der schwarze BMW drängelt. In ihm sitzt der Rennleiter 3, eigentlich ein angenehmer Mensch. Aber wenn er auf die Uhr schaut, ist er erbarmungslos. Rennleiter 3 hat zwei Besen auf dem Autodach, und die signalisieren unmissverständlich: Hinter diesem Auto ist das Rennen vorbei, der Kampf beim Ötztaler Radmarathon verloren.
Das Timmelsjoch ist ein Monster. Und an diesem Tag ein noch gefräßigeres als sonst. Es ist heiß beim 35. Ötztaler Radmarathon. Sehr heiß. Der Sieger ist schon seit zwei Stunden im Ziel, aber unten in St. Leonhard, wo die Straßencafés voll sind und munteres Geschrei aus dem Freibad schallt, wartet noch der Showdown auf ein paar Dutzend Rennradfahrer. Das letzte Gefecht. Lapidar angekündigt von einem Straßenschild: Timmelsjoch 30 Kilometer.
Viele werden den Kampf gegen den Ötztaler Radmarathon verlieren
Viele werden den Kampf gegen das Monster verlieren. Von Krämpfen geplagt, von der Hitze gezeichnet müssen sie schieben, lehnen über dem Lenker, liegen im Gras oder sitzen auf Mauern. Es ist zu heiß. Es geht nicht mehr. Aber manche fahren weiter, obwohl sie schon lange nicht mehr können. Sie haben nur ein Ziel: die ultimative Deadline um halb acht auf der Timmelsjoch-Passhöhe zu erreichen. Irgendwie.
Der Letzte, der noch auf dem Rad sitzt, nach dem der 1800 HöhenmeterAnstieg zum Timmelsjoch in brütender Hitze im Passeiertal beginnt, ist Olaf Boje von der TG Tria Rüsselsheim. Hinter Olaf haben alle schon freiwillig aufgeben oder unfreiwillig ihre Startnummer beim Rennleiter 3 abgeben müssen. „Bis zur nächsten Verpflegungsstation, danach ist Schluss“, sagt Olaf. Nein, jammert Olaf. Er ist das, was man wohl fertig nennt. Kriegt kaum mehr die Kurbel rum und hadert dabei mit sich selbst: „Das war fahrlässig, hier mit zufahren.“
Die letzten Höhenmeter voller Endorphine
Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Sein eiserner Wille wird ihn bis ins Ziel bringen. Weil er an der Verpflegungsstation Schönau nicht aufgibt. Sondern weiterfährt. Weiter. Immer weiter. „Wahnsinn. Daran hab echt nicht mehr geglaubt“, sagt er euphorisiert, als er endlich oben ist. Endlich, nachdem vier Stunden lang kein Ende in Sicht war. Und nimmt dann voller Energie und Endorphine die letzten Höhenmeter in Angriff. Fast zehn Minuten vor dem Zeitlimit.
Der Letzte, der auf der Passhöhe des Timmelsjochs auf 2509 Meter Höhe ankommt, ist Hayrullah Sokulu. Hinter ihm schaut Rennleiter 3 erbarmungslos auf die Uhr. Weil der Himmel wolkenlos und deshalb das Licht gut ist, hat er schon gut fünf Minuten überzogen. Aber jetzt ist Schluss. Alle hinter Hayrullah werden bei diesem Ötztaler scheitern. „Niemals hätte ich mich aus dem Rennen nehmen lassen“, sagt Hayrullah übermütig, legt das große Blatt auf und stürzt sich in rasanter Abfahrt ins Tal.
Der Letzte im Gesamtklassement dagegen hat ganz andere Probleme. Massimo Belletti schaut über Kreuz, als er kurz vor Hayrullah das Timmelsjoch erreicht. Er will seine Jacke anziehen, schafft es aber nicht. So konsequent Rennleiter 3 auch sein musste, um das Zeitlimit einzuhalten, so für sorglich kümmern sich jetzt alle um die, die sich bis hier durchgekämpft haben. Wenn nicht noch etwas Außergewöhnliches passiert, kommen jetzt die, die vor dem Besenwagen sind, ins Ziel.
Der Letzte, der am Gegenanstieg zur Mautstelle am Timmelsjoch vor dem BMW von Rennleiter 3 fährt, ist Simon Förtig von der Radsportgemeinschaft Würzburg. Simon ist kontrolliert bergab gefahren, fährt jetzt aber unkontrolliert bergauf. Maximilan von der Bergrettung begleitet Simon im langsamen Gehtempo und reicht ihm immer wieder einen Schluck aus der Coladose. Simon braucht eigentlich die ganze Straßenbreite, obwohl er – weil längst schon Gegenverkehr kommt – nur seine Fahrspur zur Verfügung hat. Aber alle helfen, dass es Simon sicher nach oben schafft. Mit zuckerhaltigen Getränken. Und, viel wichtiger, mit Motivation. Nur treten muss er noch selbst. Und obwohl der Körper längst weit übers Limit hinaus ist. Simon weiß: Jetzt hab ich’s geschafft!
Geschafft! Endlich geschafft! Vor zwei Jahren war im strömenden Regen schon nach 20 Kilometern in Umhausen Schluss. Letztes Jahr im Dauerregen am Brenner. Diesmal läuft’s gut für Simon. Als kurz nach halb eins die Straße an der Passhöhe des Brenner wieder für den Verkehr freigegeben wird, ist Simon schon auf der Abfahrt nach Sterzing. Auch der Jaufen geht noch gut, obwohl das Zeitlimit näher rückt. Aber Simon kämpft unentwegt. Die Hitze macht ihm zu schaffen, die ersten Krämpfe plagen ihn, er muss absteigen. Schieben. Puls drücken. Weiterfahren.
„Wenn der den Besenwagen sieht, dann kämpft er sich ins Ziel“
Der Jaufenpass ist bezwungen. Aber das Timmelsjoch ist ein Monster. Und an diesem Tag ein noch gefräßigeres als sonst. Von Krämpfen geplagt, von der Hitze gezeichnet müssen jetzt fast alle schieben, lehnen über dem Lenker, liegen im Gras oder sitzen auf Mauern. Aber Simon wittert seine Chance. Kämpft. Will in Schönau aufgeben. Schaut auf die Uhr und merkt: Es könnte reichen. Diesmal könnte es reichen! Rappelt sich auf. „Was jetzt noch kommt, das ist ja verheerend“, sagt Martin, einer der sich schon öfter durchgebissen hat. Hinten beim Ötztaler. Weit hinten. Aber Simon lässt sich nicht beirren und denkt daran, was sein Bruder prognostiziert hat: „Wenn der den Besenwagen riecht, dann kämpft er sich ins Ziel.“
Rennleiter 3 hat nicht nur zwei Besen auf dem Dach seines schwarzen BMW, sondern auch einen gewaltigen Scheinwerfer. In der hereinbrechenden Nacht leuchtet er die Straße aus. Und er gibt das unmissverständliche Signal: Hier kommen die Letzten. In Sölden stehen Hunderte Teilnehmer, längst geduscht und umgezogen, am Straßenrand. Sie bereiten denen, die kurz nach halb neun, 13 Stunden und 45 Minuten nach dem Startschuss, ins Ziel kommen, einen triumphalen Empfang. Moderator Othmar Peer wartet am Zielbogen. Simons Augen leuchten vor Glück, obwohl er es noch nicht fassen kann. Er muss in die Halle zum Interview. Die Siegerehrung beginnt hier erst, nachdem alle im Ziel sind. Der Rummel ist groß. Trotzdem hat Simon noch den Sinn für das Wichtigste: „Kann ich mal kurz zu meiner Freundin?“ Natürlich kann er. Ulrike und Simon fallen sich in die Arme. Glück. Unbändiges Glück.
„Am Wochenende habe ich gegen drei Uhr morgens Feierabend. Mittags geht’s dann aufs Rad. So sieht mein Alltag aus.“
Simon Förtig, Finisher beim Ötztaler Radmarathon und Gastronom
Am Montag, einen Tag nach dem Rennen, kann Simon kaum noch Treppen steigen. Aber er trägt stolz sein Finishertrikot und trinkt gemütlich eine Cola in der Söldener Sonne. Am Dienstag wird er wieder arbeiten. Hinter dem Tresen stehen im Irish Pixie, seiner Kneipe in Würzburg. Der Alltag kehrt zurück. Am Wochenende bis drei Uhr nachts arbeiten. Irgendwann am Mittag dann aufs Rad. 3800 Kilometer waren es bislang dieses Jahr. Abends wieder in der Kneipe. Diese Geschichte will er einrahmen und ihr dort, wo sie ihn jetzt schon „Iron Simon“ nennen, einen Ehrenplatz einräumen. Es ist die Geschichte vom Letzten beim Ötztaler Radmarathon. Einem der härtesten der Welt. Aber es ist auch die Geschichte von einem Sieger. Von einem, der es geschafft hat, ganz, ganz weit vorne zu sein.
Die Reportage wurde in den Magazinen ROADBIKE, Ausgabe 10/2015, und ROADBIKE PASSION, Ausgabe 1/2016, veröffentlicht.