Joakim Kumpala ist im Besitz dessen, was man eine imposante Plauze nennt. Als er ins Ziel kommt, ist er so entkräftet, dass er nicht mehr vom Rad steigen kann. Im Gänsemarsch trippelt er voran, das Oberrohr zwischen seinen Beinen. Es regnet längst heftig. Und obwohl es hier in Schweden, im kleinen Städtchen Motala, um Mittsommer nicht richtig dunkel wird, ist das Tageslicht längst erloschen. Es ist kurz vor Mitternacht, und Joakim ist der letzte Finisher eines großen Volksfests. Die Vätternrundan, die 298-Kilometer-Runde um den zweitgrößten schwedischen See, hat in diesem Jahr mal wieder 20.000 Teilnehmer angelockt.
Es wird warm. Sehr warm
Es ist das 50. Mal, dass die Vätternrundan stattfindet – und dass ich dabei bin, hat zwei Gründe. Erstens habe ich das schon lange auf meiner Rennrad-Bucket-List, zweitens hat mich Calle, ein Schwede, der in Stockholm im September den Velothon organisiert, kurzerhand überredet, mitzukommen. Calle erzählt am Abend vor dem Rennen von den langen Anstiegen, wo er immer Krämpfe kriegt, Calle erzählt davon, dass es lang und anstrengend werden wird, und er erzählt detailliert, dass es über Nacht praktisch windstill werden wird und am nächsten Tag warm. Sehr warm. Als wir uns aber um kurz nach 4 morgens zum Start versammeln, ist Calle nicht da. Er kneift. Im Gegensatz zu Reinald, Kai und Michael. Die drei arbeiten für Lagardère, die Agentur, die in Berlin den Velothon und in Hamburg die Cyclassics veranstaltet.
Sie sind mit dem Wohnmobil nach Schweden gefahren, um ihren Rennveranstalter-Kollegen zum 50. Geburtstag zu gratulieren. Michael ist ein alter Amateur- Rennfahrer und entspannt. Reinald und Kai sind zwei alte Hobbyfahrer und unentspannt. Weil sie noch nie auch nur annähernd 300 Kilometer lang im Sattel gesessen sind. Ich kann leider nicht beurteilen, ob ich entspannt bin – dazu bin ich viel zu müde. Was uns vereint: Wir haben uns vorgenommen, zusammen ohne großen Stress um den großen See zu fahren.
Es geht ums Überleben
Gleich nach dem Start unseres Blocks haben wir uns zu einer halbwegs großen Gruppe zusammengefunden. Am Straßenrand verkündet ein gnadenloses 290-Kilometer-Schild, dass wir noch ein bisschen was vor uns haben heute. „38er-Schnitt“, sagt Reinald nach knapp 10 Kilometern und grinst zufrieden. Kai dagegen jammert schon: „Jungs, das ist mir auf die Distanz zu schnell.“ Genau in diesem Moment fährt ein gewaltiger und schneller Zug an uns vorbei. Michael hängt sich instinktiv rein. Ich auch. Reinald und Kai nicht. Unser Plan, zusammen zu fahren, ist nach keiner Viertelstunde schon Makulatur.
Egal, schließlich ist die Vätternrundan ohnehin ein Jedermann-Rennen, bei dem jeder sein eigenes Tempo fährt. Ab Freitag, 18 Uhr, gehen die ersten Fahrer in kleinen Gruppen im Zwei-Minuten-Takt auf die Strecke, die letzten kommen am Samstag kurz vor Mitternacht an. Das Starterfeld: höchst unterschiedlich. Einerseits weil drei verschiedene Strecken zur Auswahl stehen, andererseits weil es auf der Langstrecke höchst unterschiedliche Charaktere gibt.
Zum Beispiel Typ 1, der so ist wie Joakim. Da geht es ums nackte Überleben. Ankommen ist das Ziel. Ausgiebige Stopps an den vielen Verpflegungsstationen mit Fleischbällchen oder Blaubeersuppe gehören ebenso dazu wie ein Nickerchen am Straßenrand in der schwedischen Mittsommersonne. Oder Typ 2, der eher so ist wie Reinald oder Kai. Sportlich und ambitioniert, mit Respekt vor der Distanz, aber auch mit Tempo. Oder Typ 3, der auf Zeit fährt. Hält im Belgischen Kreisel verbissen das Tempo hoch, hält nur zum Pinkeln oder Flaschenfüllen an und präsentiert sich im Ziel voller Stolz als einen echten Helden.
„Ride epic shit!“
Als wir uns im Ziel treffen, schauen wir natürlich, wer wie lang gebraucht hat. Aber als wir in der Sonne liegen und mit alkfreiem Finisherbier anstoßen, ist uns das gleich wieder völlig egal. Wir fragen uns zwar, wo die von Calle angekündigten langen Anstiege waren. Aber wir strahlen um die Wette. Nicht nur, weil wir 300 Kilometer um den See gefahren sind. Sondern vor allem, weil wir Teil dieses unglaublich schönen Radsport-Spektakels waren. Und weil uns und ungefähr 20.000 andere etwas angetrieben hat, was außer uns Radsport-Verrückten wahrscheinlich niemand verstehen kann. Etwas, das in drei schlichten Worten auf den Socken eines stolzen Vätternrundan-Finishers stand: „Ride epic shit!“