Cesenatico. Mein erster Besuch dort liegt 20 Jahre zurück. Kurz nachdem Marco Pantani Jan Ullrich den Tour- de-France-Sieg am Galibier entrissen hatte. Ich war damals Rennrad-Rookie und machte mich gerade mit der Szene vertraut. Hier an der Adriaküste war also die ganze Region verrückt nach einem, den sie wegen seines markanten Kopftuchs Pirat nannten. Hier also betrieb Pantanis Mutter einen Imbiss, verkaufte Fanartikel und bereitete leckere „Piadine“ zu. Und hier findet also das legendäre Nove-Colli-Rennen statt, eine Strecke wie gemacht für einen Bergkönig; für die Massen an Hobbyfahrern, die hier am Start stehen, ein eher zweifelhaftes Vergnügen. Ein stetiges Auf und Ab.
20 Jahre später bin ich zurück in der Stadt mit dem malerischen Hafen und treffe zufällig einen zerknirschten Mann im besten Rennradalter: Marko Böhm. Auch er war vor 20 Jahren das erste Mal in Cesenatico und beim Nove Colli am Start. 15 Mal in Folge Langstrecke. Mit seinen 75 Jahren will er mittlerweile zwar kürzer treten, aber für die Kurzstrecke reicht es immer noch dicke. Diesmal aber leider zum ersten Mal nicht – der Magen macht Probleme. Aber Marko erzählt mir, was mich erwarten würde. Eine großartige Morgenstimmung beim Start am Hafen, begeisterte Zuschauer, leidenschaftliche Helfer, hervorragende Verpflegung, traumhafte Landschaft – und eine knüppelharte Strecke. „Du wirst nie wirklich deinen Rhythmus finden“, prophezeit er mir, weil die Anstiege zu kurz, die Steigungen zu ungleichmäßig sind.
Den Rhythmus und vor allem den Takt – und meistens sogar den Ton – findet und trifft vor dem Start ein Chor aus 12.000 Rennradfahrern, der lauthals die italienische Nationalhymne schmettert und den blechernen Klang aus den überforderten Lautsprechern übertönt: Brüder Italiens, Italien hat sich erhoben und hat mit dem Helm des Scipio sich das Haupt geschmückt. Der Text könnte treffender nicht sein. Und dann wälzt sich das Riesen-Peloton in Richtung des ersten Anstiegs mit dem Namen Polenta. Nicht mehr als ein Hügel am Anfang, und trotzdem mutet die Szenerie bizarr an. Während wir noch frisch und voller Leichtigkeit nach oben kurbeln, kommen uns einzelne Gestalten in Joggingschuhen entgegen. Teilweise auf allen Vieren, teilweise rückwärts laufend, aber allesamt von Strapazen gezeichnet.
Von den Strapazen gezeichnet war Marko auch, als er das erste Mal so ein langes Rennen wie das durch das bergige Hinterland der Emilia Romagna fuhr. Aber irgdendwann wusste er, wie er trainieren, wie er taktieren musste, um das Rennen mit Anstand durchzustehen. Die schöne Landschaft motiviert dabei, „auch wenn du manchmal so am kämpfen bist, dass du davon nichts mitbekommst“.
Aber: Wer Nove Colli fährt, weiß, dass er unterwegs nicht allein ist. Am Straßenrand und in den Dörfern jubeln uns immer wieder Menschen zu, die motivierende Musik, die bereits vor dem Gipfel des vierten Colle – Barbotto – bis ins Tal dröhnt, zeigt: Hier ist eine ganze Region auf den Beinen, um den Rennradfahrern einen unvergesslichen Tag zu bescheren. Und die kommen immer wieder. Exakt drei Minuten und 25 Sekunden hat es gedauert, bis die 10.000 offiziellen Startplätze für das Rennen 2018 ausgebucht waren. Die übrigen 2000 gehen nur als Pauschalpakete inklusive Hotelübernachtung über den Tresen.
„Vielleicht hat die ganz große Faszination über die Jahre bei mir ein klein wenig nachgelassen“, gibt Marko zu. Das Rennen aber ist unberechenbar. „Ich habe am Anfang immer den letzten Anstieg zum Gorolo gehasst“, sagt Marko. „Aber später war es dann in jedem Jahr ein anderer Berg, der mich an die Grenzen gebracht hat.“ Was geblieben ist: Die gesamte Atmosphäre rund um das Rennen ist noch immer atemberaubend. Aus den Hotelbars scheppern am Vorabend Al Bano & Romina Power, auf dem Nove-Colli-Markt gibt es jede Menge Fanartikel und Pantani-Devotionalien, bei der Startnummernausgabe duftet das frisch gegrillte Spanferkel.
„Es sind die Menschen“, sagt Marko, der längst seinen Sohn Marec mit dem Nove-Colli-Virus infiziert hat, und mittlerweile gemeinsam mit ihm jedes Jahr hierher zurückkommt. Mit dem früheren Rennfahrer Guido Neri, der hier ein Radsportgeschäft betreibt, haben sie Freundschaft geschlossen. Und überhaupt: die Freundlichkeit der Menschen und ihr Respekt Radfahrern gegenüber: „Rennradfahrer kommen hier ja im Stellenwert gleich nach dem Papst.“ Für einen jedenfalls trifft das ganz besonders zu: Marco Pantani. Auf einem Stein direkt an der Strandpromenade „fährt“ eine lebensgroße Skulptur von ihm auf einem Rennrad. Sie erinnern sich hier an seine großen Erfolge. An sein sympathisches Auftreten. An die sportlichen Leistungen. An den Menschen. An seinen tragischen, viel zu frühen Tod. Und nicht an die dunklen Zeiten des Profiradsports in der Ära, dessen Teil der Pirat mit Armstrong und Ullrich eben auch war.
Ein paar Hundert Meter weiter fahren nach und nach die Finisher ins Ziel. Die Medaillen überreichen aufgebrezelte italienische Schönheiten. Im Zelt gibt es das, was Sportler so brauchen. Aber auch Bier, Würstchen und Espresso. Am Abend sind die Restaurants am Hafen gefüllt mit erschöpften Rennradfahrern. Auf dem Tisch steht eine riesige Platte mit frischem Fisch. Mal kurz auf dem Handy die Ergebnisse gecheckt. Ein paar Nachrichten geschrieben. Aber wer waren eigentlich die Läufer von heute Morgen? Google erklärt, dass es „Nove Colli“ auch für Läufer gibt. Ähnliche Strecke. Mehr als 200 Kilometer und 3800 Höhenmeter. Als wir losfuhren, waren die aber schon 24 Stunden unterwegs.