„Das Jahr 2020 hat eigentlich begonnen wie jedes andere“, erzählt Karl Wörner. Er flog mit drei Vereinskameraden nach Mallorca zum Trainieren. Als er zurückkam, war bei dem Bahn-Urgestein des RSV „Frisch Auf“ Öschelbronn aber auf einmal alles anders: der Karle, wie sie ihn hier nennen, wurde von einem auf den anderen Moment ausgeknockt. Ein Autofahrer hatte seinen Vordermann geschnitten, Wörner lag plötzlich im Krankenhaus. Komplizierter Beckenbruch. Und als wär’s ein Sinnbild, standen kurz darauf im ganzen Verein alle Räder still. Corona. Lockdown. Schockstarre.

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Öschelbronn, das ist einer von drei Teilorten der Gemeinde Gäufelden unweit von Tübingen mit 3801 Einwohnern, dessen berühmtester Sohn John Martin Schaeberle ist – ein deutsch-amerikanischer Astronom, der 1924 starb. Und trotzdem kennt jeder in der Region diesen Flecken. Zumindest jeder Rennradfahrer. Vor 100 Jahren wurde hier ein Radsportverein gegründet, der für Furore sorgte. Der zu seiner Blütezeit mit Fahrern wie Michael Rich, Uwe Peschel oder Jörg Jaksche als „FC Bayern des Radsports“ galt – und aus dem das Team Gerolsteiner von Hans-Michael Holczer erwuchs. Und der ein ganz besonderes Juwel sein Eigen nennt: eine überdachte Radrennbahn, die wie ein Magnet Radsportbegeisterte anzieht. In Corona-Zeiten wirkt das stattliche Oval allerdings wie eine Geisterbahn. Das Virus hat ihr gerade wieder das Leben ausgehaucht – Anfang November schon das zweite Mal in diesem Jahr.

Auf Abstand: Mitglieder und Vorstand des RSV Öschelbronn auf der Tribüne der vereinseigenen Radrennbahn. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Pragmatismus, Zusammenhalt, Zuversicht

„Im März haben wir gedacht, wir machen jetzt zwei, drei Monate zu – und dann würde schon alles wieder gut sein“, blickt RSV-Vorsitzender Stefan Halanke zurück: „Aber jetzt empfinde ich die Situation als viel schlimmer, weil niemand weiß wie lange es so weitergeht.“ Trübsal bläst Halanke allerdings noch lange nicht. Trotz aller Winter-Tristesse regiert in Öschelbronn – neben all den Sorgen – eine Mischung aus Pragmatismus, Zusammenhalt und Zuversicht.

Bahnwart Karl Wörner hat während des Corona-Lockdowns wenig zu tun. Der Trainingsbetrieb ruht. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Im Frühjahr hat sie die ganze Geschichte überrollt. Es hätte ein rauschendes Fest werden sollen, als vergangenen Juni der 100. Vereinsgeburtstag mit dem Zeitfahren als Teil der Deutschen Meisterschaft anstand. Alles war vorbereitet, die Festschrift quasi fertig, als plötzlich klar war, dass Corona so ziemlich alles ins Wasser fallen lassen würde. Vor allem für die alten Haudegen, die Abertausende Stunden in den Bau, den Erhalt und die Pflege der Bahn gesteckt haben, war das hart. Dem Vorstand dagegen bereitete es weniger Kopfzerbrechen. „Man konnte uns nichts vorwerfen“, sagt Halanke achselzuckend: „Wir waren schlicht und ergreifend machtlos.“

Für Kaderathleten wie Simon Köcher dürfen Sportstätten gemäß Corona-Verordnung öffnen. Trainerin Yvonne Wörner hält Abstand. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Aber die Situation fühlte sich unwirklich an, als im März klar wurde, dass die Saison komplett anders verlaufen würde. „Ich habe zuerst einmal eine Woche mein Rennrad ins Eck gestellt“, beschreibt Frank Riedel seine Situation im Frühjahr. Er, der selbst aktiv Rennen fährt und Jugendfahrer trainert, hatte wie viele andere den ganzen Winter Wettkampfform aufgebaut – umsonst. Allerdings hat Riedel schnell wieder Motivation schöpfen können: „Der Verein hat zwar den Trainingsbetrieb einstellen müssen“, sagt er, „aber im Gegensatz zu anderen Sportarten konnten wir Radsportler wenigstens individuell trainieren.“ Was für den 46-Jährigen dabei herauskam? So viel Kilometer wie noch nie. Lange Touren an den Bodensee oder mal mit dem Mountainbike im Schwarzwald so richtig ballern – „eigentlich war das auch mal cool.“

Ein trauriges Bild: die schweigende Rundenglocke. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Hoffnung auf den Sommer

Andreas Morlock dagegen hatte etwas größere Mühe damit, das Beste aus der Situation zu machen. Sein Mittwochs-Breitensport-Treff fiel ab März genauso aus wie die Radlerbörse, um die sich Morlock jedes Jahr kümmert. Neben den Hiobsbotschaften war er zudem einer der ersten, für den das Thema Covid-19 greifbar wurde. Zwei seiner Mittwochsradler kamen aus einem USA-Urlaub positiv zurück. „Das Risiko, die geplante Mehrtagestour aufs Stilfser Joch für den Sommer durchzuziehen, war mir deshalb zu groß“, sagt Morlock. Die Gruppe hatte nur wenige Möglichkeiten, sich zu Tagestouren zu treffen – und muss jetzt schon wieder auf Distanz gehen. „Wir hoffen darauf, dass im Sommer 2021 viele Dinge wieder möglich sein werden“, richtet Morlock dennoch seinen Blick nach vorne.

Frank Riedel (hinten) und Tillman Sarnowski starten an der Bahn zur Trainingsfahrt. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Immerhin war es auch 2020 so, dass die warmen Monate das Virus zurückdrängen konnten – und mit den Lockerungen auch „eine riesige Begeisterung“ bei den RSV-Radsportlern zu spüren war, wie Fabio Nappa zurück blickt. Er, der sich wie Riedel um die Jugendarbeit kümmert, hatte nämlich sorgenvoll beobachtet, wie belastend die Situation vor allem für die Jüngsten im Verein war. „Gerade da ist Gruppentraining unschätzbar wichtig“, sagt er. Alleine oder mit den Eltern trainieren zu müssen, ohne sich bei Wettkämpfen messen zu können – „da hält sich die Motivation in Grenzen“, erklärt Nappa. Ähnliches berichtet auch Guido Sarnowski, dessen Sohn Tillman zu den hoffnungsvollsten RSV-Talenten gehört. „Nicht zu wissen, wann die Saison losgeht, war für ihn extrem enttäuschend, zumal er es liebt, Rennen zu fahren“. Dennoch war Vater Guido beeindruckt von Tillmans Disziplin: „Im Juli hatte er zwar einen Durchhänger, ansonsten hat er aber sein Training konsequent durchgezogen.“

Petro Nappa schaut nach den Bahnrädern – aber zu tun hat er während der Corona-Krise so gut wie nichts. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Trotz der Lockerungen gab es noch lange Wochen der Ungewissheit, bis klar war, dass im August und September zumindest ein bisschen Wettkampf-Normalität einkehren konnte. Tillman hatte so wenigstens die Chance, zwei Sichtungsrennen und die DM zu fahren. „Wir haben immer darauf gehofft, dass wir 2020 noch Rennen fahren können“, erzählt er – und holte immerhin Bronze mit dem württembergischen Mannschaftsvierer bei der Deutschen Meisterschaft in Genthin.

In der Vereinsgaststätte sind die Stühle hochgestellt. Die Geselligkeit hat Zwangspause. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Wie Tillman Sarnowski ist auch Simon Köcher einer der großen Hoffnungsträger in Öschelbronn – allerdings in einer ganz anderen Disziplin: dem Kunstradfahren. Während er Handstände auf dem Lenker macht, steht seine sportliche Welt derzeit Kopf. Sein erstes Jahr in der Elite war für den dreimaligen Vize-Europameister ein Verlorenes. Die Landesmeisterschaften in Baden-Württemberg fanden zwar noch statt – danach wurde aber die komplette Saison abgesagt. „Wir hatten ein durchdachtes Hygienekonzept und sind außerdem eine Einzelsportart“, blickt Köcher zurück. Trotzdem standen die Sportler vor dem Problem, dass es praktisch keine Vereine gab, die das Risiko auf sich nehmen wollten, Veranstaltungen in einer vollkommen unsicheren Situation zu organisieren.

Sorgen um den Nachwuchs

Weil Köcher zu den sechs Nationalkaderathleten gehört, musste er immerhin kaum Einschränkungen im Traininingsbetrieb hinnehmen – weder bei der ersten Coronawelle im Frühling, noch jetzt bei der zweiten. Und er ist deshalb auch nicht unzufrieden mit der Situation, sich voll aufs Training konzentrieren zu können. Die Konkurrenz ist groß bei den Kunstradfahrern – und Köcher möchte sich in absehbarer Zeit mal für eine WM qualifizieren. Aber trotzdem fehlt im der Wettkampf: „Mich in der Eliteklasse mit den anderen messen zu können, wäre schon auch eine wichtige Standortbestimmung gewesen.“

Vorsitzender Stefan Halanke sagt: „Wenn es in einem Verein keine Zusammenkünfte mehr gibt, ist das eine seltsame Situation.“ Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Köchers Trainerin Yvonne Wörner hat dagegen größere Sorgenfalten auf der Stirn. Fünf Kunstradfahrer und eine vierköpfige Einradgruppe trainiert sie derzeit – eigentlich. Denn die Sportstätten sind außer für Kaderfahrer wieder dicht. „Für die Kinder und Jugendlichen ist das schlimm“, sagt sie. Wörner weiß nicht, wie lange sie ihre Fahrerinnen und Fahrer ohne Perspektive auf Wettkämpfe motivieren kann. „Wenn das so weitergeht, laufen uns die Kinder davon – und wir haben keine Chance, neuen Nachwuchs anzuwerben.“

Guido Sarnowski empfindet es als „extrem zermürbend“, dass niemand weiß, wann und wie es wieder losgeht. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Immerhin sind dramatische Folgen des ersten und zweiten Lockdowns in Öschelbronn bislang ausgeblieben. Der RSV ist die Adresse schlechthin in der Region für radsportbegeisterte Kinder und Jugendliche – und hat anders als viele andere Vereine derzeit keine Nachwuchssorgen. Aber dass die Öschelbronner Bahn Anfang November wieder schließen musste – ausgerechnet zu der Zeit, in der sie eine hervorragende Alternative zum Wintertraining auf der Straße bietet – das schmerzt. Gruppentraining darf hier bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr nicht mehr stattfinden. Und das, obwohl es ein ausgeklügeltes Hygienekonzept für die Bahn gibt. Andreas Klär, der sich darum kümmert, dass hier normalerweise zweimal in der Woche Jedermänner frei trainieren können, vermisst den „besonderen Klang der Holzbahn“, der vorübergehend verstummt ist.

„Einzigartig im Ländle“

Bis zu 20 Fahrer durften zwischen Juli und Oktober mit relativ wenigen Einschränkungen auf die Bahn. Eines der größten Probleme dabei: „Wir wussten praktisch nie, was wir jetzt genau dürfen und was nicht“, sagt Klär zu undurchsichtigen und sich ständig verändernden Vorschriften und Verordnungen. „Wir tragen die Maßnahmen trotzdem mit – und wir ertragen sie auch“, schildert er seine Stimmungslage, die allerdings getrübt davon ist, dass an den Winterbahncup, der von Edgar Teufel seit Jahren mit Liebe betreut wird, vorerst nicht zu denken ist. Jeden Sonntag messen sich dabei in Öschelbronn Jedermänner und Ambitionierte auf der Bahn – und suchen diejenigen, die die meisten, die schnellsten und die gleichmäßigsten Runden fahren. „Nicht nur deshalb ist unsere Bahn einzigartig im Ländle“, sagt Klär.

Der Verein hat alles dafür getan, um für Hygiene und Sicherheit der Sportler zu sorgen. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Dass möglichst schnell wieder Leben auf der Öschelbronner Radrennbahn einkehrt, ist aber nicht nur aus sportlicher Sicht wichtig. Sie ist auch so etwas wie das Wohnzimmer von Reiner Dinger, der hier bei Veranstaltungen als Sprecher fungiert. Als Vorsitzender des Gäufeldener Radsportfördervereins kümmert er sich zudem um die Bandenwerbung. „Wenn Sie einem Sponsor eine Rechnung stellen und können die Gegenleistung dafür nicht erbringen, weil alles ausfällt, müssen Sie natürlich viele Fragen beantworten“, sagt Dinger. Immerhin ist Dinger einer, der die Kontaktpflege zu Sponsoren wie aus dem Effeff beherrscht. Und dennoch: „Corona verschärft die Situation“, erklärt er. Grundsätzlich gebe es zwar eine große Verbundenheit mit dem Verein, aber es werde von Jahr zu Jahr immer schwieriger: „Es kommt kaum ein neuer Sponsor dazu, und bei den alten muss man darum kämpfen, dass man sie hält.“

Tristesse statt Party: 2020 wollte der RSV Öschelbronn seinen 100. Geburtstag feiern. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Diese Sorgen kennt natürlich auch Vorsitzender Stefan Halanke, der aber trotzdem auf solide Vereinsfinanzen blicken kann. Die Solidarität der Förderer mit dem RSV weiß er zu schätzen, der Verein ist gesund, vital und lebt vom leidenschaftlichen Engagement seiner Mitglieder. „Außerdem sind wir nicht so sehr abhängig von Veranstaltungseinnahmen“, erklärt Halanke. Trotzdem hat es gut getan, dass der RSV wenigstens zwei Rennen im Sommer organisieren konnte – ein Bergzeitfahren und ein Sichtungsrennen auf der Bahn. Schwierig sei, so Halanke, nämlich vor allem gewesen, das Vereinsleben aufrecht zu erhalten. Ausschusssitzungen per Videokonferenz, Kontaktbeschränkungen, die geschlossene Bahn – „wenn es in einem Verein keine Zusammenkünfte mehr gibt, dann ist das eine ganz seltsame Situation“.

Zeit, dass sich was dreht

Katerstimmung herrscht trotzdem nicht rund um die altehrwürdige Öschelbronner Radrennbahn. Sie tragen es hier mit Fassung. Und trotz so mancher Skepsis keimt Hoffnung auf, dass 2021 wieder ein besseres, ein „normaleres“ Jahr werden könnte. Wenn der Winter vorbei sein wird, die Corona-Infektionszahlen wieder sinken sollten, ein Impfstoff da ist, könnte alles wieder besser werden. Die Geburtstagsfeier zum 100. jedenfalls soll nach derzeitigem Stand nachgeholt werden – genau so wie 2020 geplant. Die Sportler sind heiß auf Wettkämpfe. In die Geisterbahn soll wieder pulsierendes Leben einkehren. 

Abgeschlossen: Seit November 2020 läuft auf der Radrennbahn in Öschelbronn nichts mehr. Jens Vögele I 360°-Kommunikation

Karl Wörner dreht in diesen Tagen oft alleine seine Runden auf dem Rad. Er meidet seit seinem Unfall ohnehin das Fahren in der Gruppe – für das Becken wäre es Gift, wenn er nochmal drauf fallen würde. Der Ruhe, die er nach seinem Sturz und durch Corona erlebt hatte, konnte er sogar etwas Gutes abgewinnen. „Ich fand’s auch mal schön, weniger Stress zu haben und nicht dauernd etwas organisieren zu müssen“, sagt er. Sein Weg führt ihn nahezu täglich an der Bahn vorbei, auf der er so viele Erfolge eingefahren hat, und die nur einen Steinwurf entfernt von seinem Zuhause liegt. „Da blutet mir dann das Herz“ sagt er, wenn er sieht, wie sie so daliegt. Geschlossen. Ohne Leben. Darauf wartend wieder ihren besonderen Klang zu verbreiten. Es ist allerhöchste Zeit. Zeit, dass sich was dreht.

Die Reportage wurde im Magazin TOUR, Ausgabe 2/2021, veröffentlicht.